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Leichenblässe

Titel: Leichenblässe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Beckett
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zu sagen, dass Tom wenigstens friedlich an der Seite seiner Frau gestorben war und dass
     ihm die Torturen erspart geblieben waren, die Irving höchstwahrscheinlich erlitten hatte. Aber |271| das war ein schwacher Trost. Auch wenn York ihn nicht mit eigener Hand getötet hatte, war Tom sein Opfer. Krank oder nicht,
     er hatte ein Recht darauf gehabt, den Rest seines Lebens in Frieden zu verbringen, ganz gleich, wie lang das noch gewesen
     wäre.
    Diese Möglichkeit hatte York ihm genommen.
    Ich sah Yorks Gesicht vor mir, das vor falscher Unterwürfigkeit strahlte, als er an jenem Morgen in Steeple Hill überschwänglich
     Toms Hand geschüttelt hatte.
Dr.   Lieberman, es
ist mir eine Ehre, Sir   … Ich habe viel über Ihre Arbeit gehört
. Und natürlich von Ihrem Institut. Es ist eine Ehre für
Tennessee.
Er musste schon damals über uns gelacht haben. Mit seinen grausigen Plänen im Kopf hatte er seine größere Schuld hinter den
     Missständen seines Unternehmens versteckt.
    Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen Menschen so gehasst zu haben wie York in diesem Augenblick.
    Doch in meinem Hotelzimmer Trübsal zu blasen hätte weder Tom wieder lebendig gemacht noch geholfen, den Mann zu fassen, der
     ihn getötet hatte. Ich duschte, zog mich an und fuhr dann ins Leichenschauhaus. Es war noch früh am Morgen, als ich ankam.
     Meine Schritte hallten durch den leeren Gang. Die kalten, gefliesten Böden und Wände des Gebäudes wirkten noch abweisender
     als sonst. Ich hätte mich gefreut, ein vertrautes Gesicht zu sehen, doch Paul hatte mir erzählt, dass er zuerst weitere Besprechungen
     abhalten musste, und ich bezweifelte, dass Summer in der Verfassung sein würde, uns bei der Arbeit zu helfen, nachdem sie
     die Todesnachricht gehört hatte.
    Immerhin war Kyle da. Er schob gerade einen Rollwagen durch den Gang, als ich aus dem Umkleideraum kam, und begrüßte mich
     so gut gelaunt wie immer.
    |272| «Hi, Dr.   Hunter. Ich muss heute Morgen bei einer Autopsie helfen, aber wenn Sie danach Hilfe brauchen, sagen Sie einfach Bescheid.»
    «Danke, das werde ich.»
    Er blieb zögernd stehen. «Äh, kommt Summer auch noch?»
    «Das weiß ich nicht, Kyle.»
    «Ach so. Gut.» Er versuchte, seine Enttäuschung zu verbergen. «Wie geht es Dr.   Lieberman?»
    Obwohl ich vermutet hatte, dass sich die Nachricht noch nicht herumgesprochen hatte, hatte ich gehofft, dass er nicht fragen
     würde. Ich wollte nicht derjenige sein, der sie überbringen musste.
    «Er ist letzte Nacht gestorben.»
    Kyle machte ein langes Gesicht. «Er ist tot? Das tut mir leid, ich wusste nicht   …»
    «Woher sollten Sie auch.»
    Ich konnte ihm ansehen, wie er nach Worten suchte. «Er war ein guter Mann.»
    «Ja, das war er», stimmte ich zu. Es gab schlimmere Grabinschriften.
    Als ich zum Autopsiesaal ging, versuchte ich, einen freien Kopf zu bekommen, um mich auf das konzentrieren zu können, was
     ich zu tun hatte. Aber in einer Umgebung, die ich vor allem mit Tom verband, war das unmöglich. Als ich an dem Saal vorbeikam,
     in dem Tom gearbeitet hatte, hielt ich inne und ging dann hinein.
    Alles sah genau so aus wie am Tag zuvor. Das Skelett von Terry Loomis lag noch immer auf dem Aluminiumtisch, mittlerweile
     fast vollständig rekonstruiert. Es war ein Autopsiesaal wie jeder andere, nichts erinnerte mehr an Toms Anwesenheit. Doch
     als ich hinausgehen wollte, sah ich den |273| C D-Player auf dem Regal und den Stapel Jazz-CDs daneben. In dem Augenblick wurde es mir erst richtig klar.
    Tom war tot.
    Ich stand eine Weile da, während die unabänderliche Tatsache in mein Bewusstsein drang. Dann gab ich mir einen Ruck, ließ
     die schwere Tür hinter mir zufallen und ging in den Autopsiesaal, in dem die Knochen des Kleinganoven warteten.
    Die Rekonstruktion und Untersuchung des Skeletts von Noah Harper hätte schon längst beendet sein sollen. Für die Verzögerung
     konnte niemand etwas, doch da die Aufgabe mir übergeben worden war, fühlte ich mich dafür verantwortlich. Jetzt war ich entschlossen,
     sie zu Ende zu bringen, auch wenn es bedeutete, die ganze Nacht durchzuarbeiten.
    Außerdem kam mir die Ablenkung gerade recht.
    Der Schädel und die größeren Knochen der Arme und Beine waren in ihrer ungefähren anatomischen Position auf dem Tisch angeordnet
     worden, der Rest war jedoch nur grob sortiert. Ich beabsichtigte, als Nächstes die Wirbelsäule zusammenzustellen, was vielleicht
     der komplizierteste Teil der Arbeit war. Das

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