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Leichenblässe

Titel: Leichenblässe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Beckett
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hätte ich wohl auch kommen müssen, aber irgendwie war ich zu sehr damit beschäftigt gewesen, was mit Tom geschehen
     war, um den Gedanken bis zu seinem logischen Schluss zu verfolgen.
    |279| «Und was hat Gardner nun vor?»
    «Abgesehen davon, die Leute zur Vorsicht zu ermahnen, kann er nicht viel tun», sagte Paul. «Er kann nicht jeden unter Polizeischutz
     stellen, und selbst wenn er es wollte, würde ihm das Personal dazu fehlen.»
    «Ich betrachte mich als gewarnt.»
    Er lächelte, aber es wirkte humorlos. «Es wird immer besser, was? Von so einer Forschungsreise kann man nur träumen.»
    In der Tat, aber ich war trotzdem froh, dass ich gekommen war. Ich hätte die Gelegenheit nicht missen wollen, mit Tom zusammenzuarbeiten,
     unabhängig davon, wie sich die Situation entwickelt hatte.
    «Bist du beunruhigt?», fragte ich.
    Paul strich sich mit einer Hand über seine Bartstoppeln. «Eigentlich nicht. Bisher hatte York das Überraschungsmoment auf
     seiner Seite, das ist nun vorbei. Ich bin natürlich vorsichtig, aber ich werde jetzt nicht ständig auf der Hut davor sein,
     dass irgendein Irrer hinter mir her ist.»
    «Mit der Zeit gewöhnt man sich daran», sagte ich.
    Er starrte mich erschrocken an, dann brach er in Lachen aus. «Ja, wahrscheinlich.» Er wurde wieder ernst. «Hör zu, David,
     wenn du dich verabschieden willst, wird es dir niemand verübeln. Diese Sache ist nicht dein Problem.»
    Ich wusste, dass er es gut meinte, die Erinnerung fühlte sich dennoch wie eine Ohrfeige an. «Das war vielleicht am Anfang
     so. Aber jetzt ist es auch meins geworden.»
    Paul nickte, schaute dann auf seine Uhr und verzog das Gesicht. «Tut mir leid, aber ich muss los. Die nächste verfluchte Institutsbesprechung.
     In ein paar Tagen kehrt bestimmt ein wenig Ruhe ein, aber im Moment müsste ich ständig an zwei Orten gleichzeitig sein.»
    |280| Nachdem die Tür hinter ihm zufiel, schien mich die Stille im Autopsiesaal zu erdrücken. Ich schaute auf das teilweise rekonstruierte
     Skelett, das auf dem Untersuchungstisch wartete, und dachte an Tom.
    Dann machte ich mich wieder an die Arbeit.
     
    Ich arbeitete noch länger, als ich vorgehabt hatte. Teilweise, weil ich die verlorene Zeit aufholen wollte, aber auch, weil
     der Gedanke, den Abend allein im Hotel zu verbringen, nicht gerade reizvoll war. Solange ich beschäftigt war, konnte ich mich
     von der Tatsache ablenken, dass Tom tot war.
    Aber das war nicht alles, was mir zu schaffen machte. Das Gefühl der Beklemmung, das nach Pauls Besuch in mir aufgekommen
     war, wollte nicht verschwinden. Ich war seltsam empfindlich geworden. Der typische chemische Gestank der Leichenhalle war
     mit einem undefinierbaren biologischen Geruch unterlegt, der an ein Schlachthaus erinnerte. Die weißen Fliesen und die Metallflächen
     schimmerten kalt im grellen Licht. Aber am meisten bedrückte mich die Stille. In der Ferne brummte ein Generator, was ich
     aber eher spürte als hörte, und irgendwo tropfte ein Wasserhahn. Doch abgesehen davon war kein Geräusch zu hören. Normalerweise
     bemerkte ich die Stille nicht einmal.
    Jetzt spürte ich sie überall um mich herum.
    Natürlich wusste ich ganz genau, was der Grund dafür war. Bis Paul es ausgesprochen hatte, hatte ich keine Sekunde die Möglichkeit
     in Erwägung gezogen, dass York es auf ein anderes Mitglied des Ermittlungsteams abgesehen haben könnte. Meine Sorge hatte
     allein Tom gegolten, und selbst nach dem, was mit Irving geschehen war, hatte ich blindlings angenommen, dass nur er bedroht
     war. Aber es war naiv, zu glauben, dass York mit Toms Tod aufhören würde.
    |281| Er würde einfach seine Prioritäten verlagern und weitermachen.
    Paul war bisher kaum an der Ermittlung beteiligt gewesen, es gab jedoch eine Menge anderer Leute, die Yorks augenscheinlichen
     Appetit auf öffentlichkeitswirksame Opfer befriedigen könnten. Ich war nicht so arrogant, dass ich mich dazuzählte. Trotzdem
     ertappte ich mich zum ersten Mal seit Tagen dabei, wie ich mit einer Hand unter den O P-Kittel fuhr und das Narbengewebe auf meinem Bauch abtastete.
    Es war nach zehn Uhr, als ich aufhörte zu arbeiten. Bei der Untersuchung der Knochen von Noah Harper hatte ich keine weiteren
     wichtigen Erkenntnisse gewonnen, aber damit hatte ich auch nicht gerechnet. Die Frakturen im Halswirbel hatten genug erzählt.
     Ich zog mich um und ging hinaus in den Hauptgang des Leichenschauhauses. Ich schien das Gebäude für mich allein zu haben.
     Kyle

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