Leichendieb
kein Schluchzen und auch kein Jammern mehr, sondern nur noch die Worte, ich will meinen Sohn, die sie wie ein Gebet oder ein Mantra intonierte.
Auch Dalva weinte. Selbst ich hatte einen Kloß im Hals. Ich brachte sie in die Küche und ging ein weiteres Mal auf die Toilette, um mich zu übergeben. Dieser Szene beizuwohnen, war schrecklich gewesen, andererseits wurde ich dadurch etwas gelassener. Sie werden die Polizei nicht benachrichtigen, dachte ich.
An diesem Tag fuhr ich fünfmal zur Apotheke, immer, um Medikamente für Dona Lu zu kaufen. Der Arzt kam zum Hausbesuch und blieb den Nachmittag über bei ihr.
Um sechs Uhr traf ich mich mit Sulamita am Ausgang vom Leichenschauhaus. Ich erzählte ihr in allen Einzelheiten, was geschehen war.
Bist du sicher, dass das alles war?, fragte sie.
Ja, antwortete ich.
Wollte er nicht mehr über meine Arbeit wissen?
Nein, sagte ich. Dazu war keine Zeit. Dona Lu hat unsere Unterhaltung unterbrochen. Aber Dalva hat Fragen gestellt. Ich weiß nicht, vielleicht hat Dalva einen Verdacht. Sie hat sich auch nach meinem Leben in São Paulo erkundigt. Doch das hat womöglich nichts zu bedeuten.
Wir saßen im Wagen. Es war so heiß, dass ich ganz betäubt war.
Und er? Seu José? Meinst du, dass er dich verdächtigt?, fragte Sulamita.
Meine Meinung darüber hat sich im Laufe des Tages bereits mehrmals geändert, erwiderte ich. Ich habe die Frage schonmit ja und mit nein beantwortet. Manchmal denke ich, es ist alles so offensichtlich. Du, das Leichenschauhaus. Andererseits weiß ich, wie das ist, wenn man mittendrin steckt und leidet. Man hat einfach keinen Gesamtüberblick über die Lage. Wenn ich zum Beispiel an meine Mutter zurückdenke, glaube ich, dass er mich um Hilfe bitten wird. Das ist aber auch schon alles.
So reich, wie der ist? Warum bittet er nicht den Innenminister um Hilfe?
Weil Dona Lu ihren Sohn beerdigen möchte. Die Polizei könnte das vereiteln. Sie könnte den Entführer verscheuchen.
Wird sie die Polizei nicht benachrichtigen?
Nein. Darauf kannst du wetten.
Wir hatten uns lange unterhalten. Sulamita glaubte, dass die Probleme später auftauchen würden. Es wird der Zeitpunkt kommen, sagte sie, an dem sie die Polizei benachrichtigen müssen. Wenn sie die Leiche erhalten. Für die Beerdigung muss eine DNA-Untersuchung durchgeführt werden. Das ist das normale Prozedere. Die Polizei wird Fragen stellen.
Sulamita kannte allerdings einen Angestellten in dem Labor in Brasília, wo sämtliche Untersuchungen der Gegend vorgenommen wurden, und glaubte, dass wir ihn dazu überreden könnten, uns zu helfen.
Wie denn?, fragte ich.
Er verdient sechshundert Real, sagte sie. Einen, der sechshundert Real verdient, kann man zu allem überreden. Man muss bloß zahlen.
Jetzt ist es wichtig, die Strategie des Schweigens zu verfolgen, erklärte sie. Wir gehen für eine Weile auf Tauchstation. Keine Waffe ist tödlicher als das Schweigen.
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Wenn man ein Verbrechen wie dieses begeht, sind das Problem nicht die anderen. Und noch viel weniger die Realität oder die Indizien. Das Problem ist man selbst. Die Möglichkeit, ins Schleudern zu geraten, wenn einem jemand eine Frage stellt. Die Fehlleistungen. Überreaktionen. Ganz zu schweigen von dem Wunsch, ein Geständnis abzulegen, der sich in manchen Momenten einstellt. Das kommt oft vor, sagte Sulamita. Schuldgefühle richten in solchen Momenten das größte Unheil an. Die Menschen halten die zusätzliche Last, die sie nun mit sich schleppen, schlicht und einfach nicht aus. Sie wollen sie loswerden, um schlafen zu können. Im Grunde genommen haben Geständnisse mehr mit Erleichterung als mit Reue zu tun. Sie wirken wie Balsam. Wie eine Entlastung. Anschließend bereuen die Menschen ihr Geständnis, aber dann ist es zu spät.
Unsere Unterhaltungen im Bett drehten sich stets um Themen dieser Art. Wie wir uns in dieser oder jener Situation verhalten sollten. Das Zauberwort heißt Selbstkontrolle, sagte Sulamita. Permanente Selbstkontrolle.
Insgesamt hielt ich mich recht wacker. Egal, was Dalva fragte und was auch im Haus passierte, ich blieb standhaft, bis wir beschlossen, dass der Moment gekommen war.
An einem Montag gegen einundzwanzig Uhr verließen wir das Haus, nahmen Júniors Handy mit und gingen zum Platz in unserem Viertel.
Der erste Anruf verlief angespannt. Sie wollten wissen, wieso das Telefon ihres Sohnes noch funktionierte. Haben Sie nicht gesagt, Sie hätten meinen Sohn aus dem Wasser geborgen? Sie waren sehr
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