Leichenfresser - Thriller
Vater befand sich tatsächlich noch auf dem Friedhof. Wahrscheinlich betrunken. Barry würde ihn finden, sich ihm stellen und ihm irgendwie die Schlüssel abluchsen müssen.
Er rannte aus dem Haus und betete, dass ihm das alles rechtzeitig gelingen würde. Am Horizont zeichneten sich leichte Spuren bläulich-weißer Helligkeit ab. Nicht viel – nur ein geflüstertes Versprechen des bevorstehenden Sonnenaufgangs.
»Halt durch, Timmy«, stieß er keuchend hervor. »Ich beeile mich.«
Timmy stieg stetig weiter in die Tiefe. Manchmal fiel der Tunnel so steil ab, dass seine Füße wegrutschten und er Mühe hatte, das Gleichgewicht zu halten. Außerdem wurde das Labyrinth zunehmend verwirrender. Als Timmy sieben Jahre alt gewesen war, hatte er auf dem Jahrmarkt in York einen Hamster namens Milo gewonnen. Er hatte den kleinen Nager in seinem Zimmer gehalten und für ihn ein Habitrail-Spielzeuglabyrinth aufgebaut. Timmy war davon ausgegangen, der Hamster würde es lieben, in den zahlreichen Plastikröhren umherzurennen, doch stattdessen hatte das Tier völlig verängstigt gewirkt. Nun verstand er, wie Milo zumute gewesen sein musste.
Bald wurde der Zweck der abzweigenden Gänge und zahlreichen Kreuzungen erkennbar: Jeder neue Pfad führte empor zu einem Grab. Je weiter Timmy ging, desto mehr davon fand er. Leere Särge übersäten den Tunnel, zu Trümmern zerschlagen und beiseitegeworfen, daneben Fetzen von Kleidern und andere unerwünschte Gegenstände, die keinen Wert für den Ghoul oder seinen menschlichen Helfer besaßen – Zähne, Toupets und etwas, das Timmy beklommen als Herzschrittmacher identifizierte.
An einigen Stellen verstopften derart viele Sargreste den Tunnel, dass Timmy über die Trümmer hinwegkriechen musste. Einmal, als er auf dem Rand einer mit Seide ausgekleideten Kiste ins Wanken geriet, ließ er sowohl die Taschenlampe als auch das Messer fallen. Der Strahl erlosch, die Lampe rollte fort. Timmy blieb in völliger Finsternis zurück. Panisch rollte er sich von dem Sarg runter und tastete umher. Tränen traten ihm in die Augen. Seine Atmung ging in kurzen, gehetzten Stößen.
Dann schlossen sich seine Finger um die Lampe. Er murmelte ein Stoßgebet und schaltete sie ein. Sie funktionierte noch. Nach wenigen Momenten fand er auch das Taschenmesser, dann setzte er den Weg fort.
»Danke«, flüsterte er. »Oh danke, danke, danke. Jetzt lass nur noch Doug wohlauf sein, uns hier rauskommen und Barry den Bagger holen, dann wird alles gut.«
Plötzlich blieb Timmy mitten im Tunnel stehen. Mit einem Mal hatte er das Gefühl, als hätte jemand einen Eimer eiskaltes Wasser über ihm ausgeschüttet. Er erinnerte sich an Clark Smeltzer, der hinter dem Werkzeugschuppen über ihm gestanden und überheblich verkündet hatte: Am Schuppen ist ein neues Schloss und ich bin der Einzige, der’s öffnen kann .
Sowohl Timmy als auch Barry hatten es gehört. Wie hatten sie nur so töricht sein können?
Wie sollte Barry in den Schuppen gelangen, wenn er die Kombination des Zahlenschlosses nicht kannte? Die Schlüssel seines Vaters waren nutzlos.
Barry muss eben einfach das Fenster einschlagen oder sich was anderes einfallen lassen, dachte Timmy. Er lässt uns schon nicht hängen .
Schließlich, nach einem langen, abwärtsführenden Marsch, verflachte der Weg erneut. Gleichzeitig wurde er breiter und höher. Timmy fiel auf, dass die Oberflächen der Wände glatter waren, als wäre bei der Fertigstellung dieses Teils besondere Sorgfalt angewendet worden.
Es tauchten nun keine weiteren Nebengänge mehr auf. Anfangs fragte sich Timmy, weshalb, dann begriff er. Er musste sich dem älteren Abschnitt des Friedhofs nähern. Zwischen den beiden Bereichen entlang des Hangs, der sie voneinander trennte, gab es keine Gräber, weder alte noch neue. Hier musste er sich im Augenblick befinden. Erst am Vortag war er mit Katie dort gewesen. Als sie Händchen haltend spazieren gegangen waren, hatten sie die große Erdabsenkung bemerkt. Er schloss die Augen und dachte daran zurück, wie Katie gerochen hatte. Jener Moment schien 1000 Jahre zurückzuliegen und er wünschte sich sehnlichst, sie wiederzusehen. Timmy hatte das Gefühl, sobald er wieder ihre Hand halten könne, würde alles gut.
Er blieb stehen und lauschte, doch er hörte nichts. Falls seine Vermutung stimmte und er sich auf den älteren Teil des Friedhofs zubewegte, musste sich das ursprüngliche Gefängnis des Ghouls mittlerweile sehr nah befinden. Auch der Gestank
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