Leichenschrei
»Aber unser Sohn, Scooter, hatte eine Mittelohrentzündung, und die Medizin war alle. Und ich wollte keinen Babysitter, obwohl Will meinte, es wäre keine große Sache, und deshalb …« Sie rieb sich die Stirn. »Und als Will zurückkam, nachdem er die Medizin geholt hatte, sind wir zu Hause geblieben. Verstehen Sie nicht? Ich habe meine beste Freundin versetzt, und sie …«
»Und wenn Sie sich getroffen hätten, dann wäre sie Ihrer Meinung nach noch am Leben.«
Sie krampfte die Finger ineinander, bis die Knöchel weiß hervortraten. »Dann wäre für Laura alles anders gewesen. Ich weiß, dass es anders gewesen wäre.«
Ich griff nach ihren Händen. »Was Sie da empfinden, Joy, ist ganz normal. Erstens bin ich sicher, dass Scooter Sie an dem Abend gebraucht hat. Und zweitens hat, wer auch immer Laura umgebracht hat, alles genau geplant. Ich bezweifle also, dass es einen großen Unterschied gemacht hätte. Wirklich.«
Sie reckte das Kinn vor. »Aber vielleicht doch.«
»Joy, versuchen Sie zu …«
Jemand stellte sich hinter mir an. Ich reichte Joy meine Karte. »Hören Sie, wenn Sie noch weiter darüber reden wollen, rufen Sie mich an. Meine Handynummer steht drauf. Keine großen Formalitäten, ja?«
Sie versuchte, die Tränen in ihren blauen Augen wegzublinzeln, straffte die Schultern und schob mir die Karte wieder zu. »Danke, Tally, aber ich habe alles unter Kontrolle.«
Als ich mich vom Schalter entfernte, spürte ich in meinem Innern den vertrauten Stich, weil ich wusste, dass ich den Schmerz heilen konnte, man mich aber nicht ließ.
Ich rutschte hinters Lenkrad und sah mich einem neongrünen Post-it gegenüber, das an meiner Windschutzscheibe flatterte. Ich stieg aus und zog es ab.
Ich vermisse dich. OL. Mich vermissen? OL?
Ich durchforstete mein Gehirn, aber mir viel kein OL ein, ob er mich nun vermisste oder nicht.
Auch an allen anderen geparkten Wagen klebten Post-its.
Ich sah sie alle an. Die anderen Post-its waren nicht unterschrieben, und es standen Dinge wie »Wasch mich!« oder »Rettet die Wale!« darauf.
Meins war direkt an mich gerichtet. Vielleicht mein Mr Atemlos aus Boston?
Ich hatte allmählich genug von all den bizarren Anspielungen.
Als ich abfuhr, war ich total genervt. Und neugierig. OL? Das Leben in Winsworth war wirklich seltsam.
Kaum hatte ich den Winsworth River überquert, bremste ich und bog in die Zufahrt zu einem alten, viktorianischen Haus ein, in dem eine Karateschule untergebracht war.
Seit ich Drew Jones und seinen Hund im Auto mitgenommen hatte, hatte ich den wahren Grund für meine Rückkehr nach Winsworth beiseitegeschoben: meinen Dad.
Dad hatte sich mit diesem Ort verbunden gefühlt. Er hatte immer von Winsworth geredet und gesagt, dass er an dem einzigen Ort, wo er sich je zu Hause gefühlt hatte, begraben sein wolle. Also hatte ich ihn hier beerdigen lassen.
Oh Mann, ich vermisste ihn auch noch nach zwanzig Jahren.
Ich machte kehrt und fuhr den Weg zurück, den ich gekommen war. Zum Friedhof von Winsworth.
Ich parkte auf einem schmalen Feldweg neben dem kleinen Friedhof. Umgeben wurde er von einer Steinmauer, die vor zweihundert Jahren ohne Mörtel aufgeschichtet worden war. Grabsteine ragten an dem steilen Abhang auf, und unter den grünen Rasen mischten sich Büschel aus verdorrtem Gras. Ich ging zu dem steinernen Bogen, der den Eingang bildete. Zwei alte Fliederbüsche hielten dort Wache. Die Luft war warm und erfüllt vom Duft ihrer Blüten. Ich fuhr mir mit der Hand durchs Haar. Meine Kopfhaut war schweißnass.
Ich setzte die Sonnenbrille auf und trat durch den Stein-bogen des Friedhofes.
Ich wandelte zwischen kleinen Plaketten, repräsentativen Denkmälern, Putten und Engeln, geneigten Grabsteinen und solchen, die stramm wie ein Soldat standen. Es schien, als hätte hier ganz Winsworth seine letzte Ruhe gefunden.
Aufgrund meiner Arbeit war ich über die Jahre auf unzähligen Friedhöfen gewesen. Dieser hier … Ich hatte einen Kloß im Hals.
Ich nickte Arnie Thornton zu, einem Jungen, mit dem ich die Grundschule besucht hatte. Da lag Mrs Ostermeyer, die Mutter einer Klassenkameradin. Und dort ruhte Martha Kelton, die ältere Dame, der ich einmal in der Woche vorgelesen hatte. Wie konnten sie alle hier liegen, wo sie in meiner Erinnerung doch so lebendig waren?
Plötzlich sehnte ich mich verzweifelt nach meinem Vater.
Ich rannte keuchend durch die Reihen, bis ich einen Punkt ganz oben auf dem Hügel erreichte. Er lag direkt an einer Ecke
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