Leichenschrei
gehört.
J. Blake. Genau wie mein Dad.
Eine Brise strich über die Härchen in meinem Nacken, und ein Schauder lief mir den Rücken hinunter.
Die Angst hatte mich immer noch fest im Griff, doch ich wandte mich in Gedanken von meinem Dad ab, dem Mord an Laura zu. Ich hätte gern gewusst, ob es etwas Neues gab oder ob die Forensiker eine lohnende Entdeckung gemacht hatten. Hank war sicher auf dem Laufenden, also fuhr ich zum Gericht und ging zu seinem Büro.
»Moment mal«, rief ein Mann. »Sie können doch nicht …«
»Der Sheriff meinte, das geht in Ordnung.« Ich hielt ihm meinen MGAP-Ausweis unter die Nase und trat lächelnd in Hanks Büro. »Hank?«
Das Büro war sauber, aufgeräumt und vollgestopft mit Büchern und einer Sammlung von I-Ahs, dem mürrischen Esel aus Winnie Puh. Auf dem Schreibtisch lag ein ziemlich zerfleddertes Exemplar von Tao Te Puh.
I-Ah persönlich saß zusammengesunken und mit geschlossenen Augen auf seinem Stuhl. Das Gesicht grau und eingefallen. Ringe unter den Augen. Eine fiese Beule auf der Stirn. Er sah miserabel aus, total fertig. Die Finger lugten aus dem dreckigen Gipsverband hervor, der seine linke Hand umhüllte. Ich nahm an, dass es sich bei der Medizin auf seinem Tisch um ein starkes Schmerzmittel handelte.
»Was machen Sie denn hier?«, blaffte Hank.
»Einen Besuch. Von dem Zeug da wird man doch angeblich sanftmütig.«
»Ich bin sanftmütig genug«, sagte er, ohne es für nötig zu halten, die Augen zu öffnen.
»Woher wussten Sie, dass ich es bin?«
»Hab’s gerochen«, sagte er. »Was woll’n Sie?«
Ich setzte mich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. »Ich dachte, Sie hätten vielleicht was Neues über Lauras Ermordung.«
Eins seiner blutunterlaufenen Augen öffnete sich. »Nicht viel. Im Labor arbeiten Sie an den Kippen. Die Jungs von der State Police meinen, sie haben Pinkham in seiner Hütte beim Baxter State Park eingekreist. Ein schlauer Bursche, unser Gary, sich zu Hause zu verstecken.« Seine Lider schlossen sich wieder, und er seufzte.
Ich erhob mich leise vom Stuhl und zog vorsichtig die Tür auf, um ihn nicht zu wecken.
»Moment noch«, sagte er. »Hätten Sie Lust auf ’ne Pizza.«
»Pizza?«
»Sie wissen schon, dieses i -talienische Zeug mit der roten Soße obendrauf.«
»Lassen Sie endlich diesen hinterwäldlerischen Maine-Akzent weg, Sheriff.«
»Sie haben mich durchschaut, was?«
»Bestimmt nicht.«
»Also, was ist jetzt mit der Pizza? Ja oder nein?«
Eigentlich war die Vorstellung ganz nett, aber … »Tut mir leid, nein. Ich muss nach Hause.«
* * *
Zu Hause half mir Pennys begeisterte Begrüßung über die Leere hinweg, die ich empfand, nachdem ich Hanks Einladung ausgeschlagen hatte. Ich hatte sie nicht angenommen, weil … Blöd eigentlich, nicht anzunehmen. Aber ich war mir nicht sicher, ob mir nach einer Romanze zumute war, auch einer kurzen.
Ich zauste Pennys Fell und genoss es, von ihr abgeleckt zu werden. Ich fühlte mich geliebt.
Ich ging mit ihr eine kurze Runde Gassi. Eine steife Brise wehte aus östlicher Richtung, vom Wasser. Sie zerzauste ihr Fell und kühlte die Luft ab. Als ich wieder drinnen war, schlug ich Lauras Akte auf und fing an, meine Notizen in den Mac zu übertragen.
Noah und Annie, Carmen, Hank, Joy, Gary Pinkham, Steve Sargent, Drew … Ich unterstrich Drews Namen. Schwierig, die Erinnerung an den freundlichen Jungen von dem Halloween-Fest mit dem verwirrten Mann in Einklang zu bringen, den ich in der Nacht getroffen hatte, als Laura Beal starb.
So etwas hatte ich bereits erlebt – ein Wirbelsturm aus kleinen Ereignissen, die um einen Mord kreisten. Eine Mordtat konnte einfach und ungestüm sein, ausgelöst durch Wut oder Leidenschaft. Aber es gab auch eine andere Sorte, zu der vielschichtige Emotionen gehörten, die zu einem vorsätzlichen und grässlichen Abschlachten führten.
Der Eindruck, den ich von Laura Beals Ermordung hatte, entsprach eindeutig Letzterem.
Ich machte eine Pause, lehnte mich zurück und nahm die Ruhe in mich auf. Ein Herzschlag, noch einer, und dann sah ich wieder das Feuer vor mir und den verzweifelten Wunsch meines Vaters, aus Winsworth zu fliehen. Ranken aus eisigem Nebel breiteten sich in meinem Kopf aus und pressten noch mehr und schlimmere Erinnerungen heraus.
Ich schlug die Augen auf, schüttelte den Kopf und verbannte die Erinnerungen. Ich wählte Vedas Nummer. Sie war Expertin, wenn es darum ging, mich ins Hier und Jetzt zurückzuholen.
Der Anrufbeantworter ging
Weitere Kostenlose Bücher