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Leichenschrei

Titel: Leichenschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vicki Stiefel
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des Steinwalls und wurde von einem knorrigen alten Rotahorn überschattet.
    Ich setzte mich neben die Messingplakette und fuhr mit den Fingern über den Namen – John Blake.
    Schon komisch, was uns so durch den Kopf geht. Gleich bei unserem ersten Treffen hatte Veda gesagt, »was für eine Tally« ich doch sei – was auch immer sie damit gemeint hatte. Sie hat es mir nie erklärt, aber der Spitzname ist mir geblieben. So wurde ich Tally Blake, bis ich heiratete und zu Tally Whyte wurde.
    Es fiel mir schwer, mich an das Mädchen zu erinnern, an diese Emma Blake.
    Ich schlang die Arme um die angewinkelten Knie. Der Himmel war so blau, dass es wehtat. Ich pflückte einen Löwenzahn und drehte den Stängel zwischen den Fingern, bis die Blüte verschwamm …
    Rote und orange Flammen züngeln in den schwarzen Nachthimmel und blenden die Sterne aus. Das Nachthemd schlottert um meine Beine, als Daddy mich aus dem brennenden Haus zieht, durch das dahinter liegende Feld und in den Wald. Daddy zerrt mich schneller und schneller mit sich und schleppt dabei diesen blöden Koffer.
    Ich stolpere, als wir den steilen Abhang zum Fluss hinunterrennen, aber da läuft Daddy schon so komisch, als hätte er Seitenstechen, weshalb er mir auch nicht aufhelfen kann. Als wir am Bootssteg ankommen, hebt er mich in unser Motorboot, springt dann selber hinein und landet keuchend neben mir. Durch die Bäume sehe ich, wie die Flammen aus unserem Haus hoch in den Himmel schlagen.
    Daddy flucht, als er einmal, zweimal, dreimal am Seil des Motors zieht. Endlich springt er stotternd an, und dann – gerade, als der pralle Mond über den Bäumen am Ufer auftaucht – tuckern wir über den verlassenen Fluss in Richtung Meer.
    »Wir haben’s geschafft, Emma«, sagt er. »Jetzt kommt alles in Ordnung.«
    »Aber du bist verletzt.« Die rechte Seite seines Hemdes ist schwarz, und er presst die Hand darauf.
    Er runzelt die Stirn, während er das kleine Boot steuert. »Nicht so schlimm.«
    »Aber … Was ist denn los, Daddy?«
    Er legt mir einen Finger auf die Lippen. »Pass auf. Ich, äh … Es lief gerade nicht so gut, Herzchen.«
    »Aber was ist mit all den Häusern, die du baust? Du hast doch gesagt, Trenton-by-the-Sea würde die großartigste Sache der Welt.«
    »Genau, das sollte es«, blafft er mich an. Er seufzt. »Und jetzt das Feuer. Wir haben das Haus verloren, Schatz. Ich hatte noch mal eine Hypothek darauf aufgenommen, aber es gab keine Versicherung, nur die von der Bank und, und … Ach, ist ja auch egal. Aber wir fangen noch mal an, Emma. Ganz von vorn. So wie Neugeborene.«
    Ich fange an zu weinen. »Ich verstehe das nicht.«
    »Eines Tages wirst du es verstehen.«
    Der Nachtwind kriecht unter mein Hemd, und ich zittere. Daddy greift hinter sich und legt mir seine alte Seemannsjacke über die Schultern.
    Ich kann nicht mit dem Weinen aufhören. »Aber Daddy, ich will gar nicht weg von hier.«
    »Du wirst schon sehen. Es kommt alles in Ordnung.«
    Das Mondlicht glänzt in den Tränen, die aus Daddys Augen kommen.
    Wir landeten in Boston, in einem Hochhaus neben einem Waschsalon, der Crystal’s Duds ’n Studs hieß. In einer anderen Nacht, einer regnerischen, stürmischen im September, fuhren wir in Daddys Rostlaube nach East Lexington, einem Arbeiterviertel, das inzwischen längst zu einem In-Viertel geworden ist.
    In all dieser Zeit nahm ich Daddy das nie besonders übel, die Verrücktheit seiner großen Pläne, seine seltsamen Fluchtmanöver, die ständig wechselnden Freunde, das Eingewöhnen in neuen Schulen, die ich dann wieder verließ. Daddys Lächeln, seine komischen Witze und seine großartigen Ankündigungen verwandelten alles in ein einziges, großes Abenteuer.
    Stimmt, die Erfolgskurve seiner Abenteuer bog sich allmählich nach unten, genau wie der Boden unserer Wohnung. Da wurde mir klar, dass mein großherziger Dad ein Träumer war, dessen großartige Pläne dem Druck der Realität so wenig standhielten wie ein Kartenhaus.
    Aber ich liebte ihn trotzdem, weshalb für mich eine dunkle Zeit anbrach, als ich ihn kaum noch atmend auf unserer Türschwelle fand, wo ihn ein kleiner Gauner niedergestochen hatte, und das für höchstens zwanzig Dollar und seine Geldscheinklammer, die ihm als Glücksbringer diente.
    Dr. Veda Barrow hatte mich gerettet. Sie tröstete mich, stand mir zur Seite und hielt mich fest, als der Schutzwall um meine Trauer schließlich brach. Sie und ihre Schwester Bertha wurden zu der Mutter und dem Vater, die

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