Leichenschrei
dran; ich hinterließ eine Nachricht.
Die Nacht war kühl, klar und tröstlich. Das Mondlicht spiegelte sich in der Bucht. Eine sanfte Brise von Westen und der Mondschein lockten mich nach draußen. Ich zog meine Laufschuhe an und trat dann vor die Tür, um mit Penny einen kurzen abendlichen Lauf zu machen. Dann würde mein Kopf wieder klar werden.
Penny preschte zu meinem Wagen, der in der Einfahrt stand.
»Was zum Teufel …! Penny!« Vermutlich ein Kaninchen. Ich trabte zu ihr. Sie umrundete den Truck immer und immer wieder. Penny lief im Kreis, als würde sie … Oh nein. Penny roch den Tod, menschlichen Tod. »Mist.«
Vorsichtig öffnete ich die Fahrertür, roch aber nichts. Penny jaulte, dann urinierte sie neben den Wagen. Sie erstarrte.
»Heilige Scheiße.« Ich sah unter die Sitze. Es war lächerlich.
»Wo denn, Pens?«
Sie sprang auf den Fahrersitz, setzte sich und kratzte dann an der Klappe zum Handschuhfach.
Herrje. Ich hatte die Post im Handschuhfach gelassen.
Pennys legendärer Ruf als Mitglied der Hundestaffel hatte sich immer und immer wieder bestätigt. Ich hoffte, dass sie dieses Mal falschlag. Vorsichtig öffnete ich das Handschuhfach. Lauter flache Briefe … und ein leicht gewölbter Umschlag, den ich plötzlich nur noch sehr widerstrebend öffnen wollte.
Aber es musste sein.
Ich holte mir eine Zange und einen neuen Umschlag aus dem Haus. Ich schob die ganze Post in den Umschlag und brachte den Stapel dann nach drinnen, die jaulende Penny immer dicht an meiner Seite.
Ich verteilte die Briefe auf einer sauberen, ungelesenen Zeitung.
Sollte ich Hank anrufen oder das Ding einfach aufmachen? Ich wollte schon nach dem Telefon greifen, entschied mich dann aber für die Schere. Ich wollte das dickliche Päckchen zuerst öffnen, weil ich davon ausging, dass es sich dabei um den Übeltäter handelte, der Pennys Aufmerksamkeit erregt hatte.
Nachdem ich ihn also aufgeschnitten hatte, schlug ich den gelben Umschlag auf. Drinnen befand sich eine Art Stoff-binde, wie sie Sportler benutzen, um Verstauchungen oder Ähnliches zu kühlen. Ich rollte sie auf.
»Himmel.«
Die Rolle enthielt einen Finger. Nicht einfach irgendeinen, sondern den kleinen Zeigefinger eines Kindes.
Du lieber Gott. Welcher Perverse … »Alles klar, Pens …« Ich suchte nach den tschechischen Worten. » Nech to «, sagte ich, was so viel bedeutet wie »Lass gut sein«. » Nech to «, wiederholte ich. Endlich wurde sie ruhiger. » Hodny, Penny. Hodny. Gutes Mädchen!«
Ich seufzte. Ein Kinderfinger. Ich hatte lange genug mit dem Leichenbeschauer zusammengearbeitet, um zu wissen, dass es sich um einen alten Finger handelte – vertrocknet und schrumpelig und … von wem? Von wo? Und warum? Was für eine grässliche Nachricht war das? Oder war es ein Geschenk?
Plötzlich war ich wieder in den Händen des Schnitters, kämpfte blutend und glitt in dieses Horrorkabinett. Hier ein Arm, da ein Bein, Augäpfel, ein Torso … Ich musste mich setzen.
Der Schnitter, ein gefundenes Fressen für die Klatsch-presse, hatte Körperteile gesammelt. Und jetzt dieser Kinderfinger. Der Absender hatte Nachforschungen über mich angestellt. Das musste er. Er wusste von meinem Leben in Boston. Wusste …
Man hatte mir eine Nachricht geschickt, eine widerliche.
Ich wickelte den zarten Kinderfinger wieder in die Originalhülle, legte das ganze Päckchen vorsichtig in eine saubere Tupperdose und stellte sie in den Kühlschrank. Ich versuchte, den Ekel zu unterdrücken. Ein Finger lag neben den Resten meines Sandwiches mit Ei und Salat. Igitt. Ich warf das Sandwich weg.
Ich rief Hank an, konnte aber nur eine Nachricht auf Band hinterlassen.
Vielleicht sollte ich besser die Polizei von Winsworth anrufen, im Gegensatz zu Hank als Sheriff. Aber ich vertraute Hank. Ich wartete.
Ich wusch ab und ging dann ins Bett. Ich fühlte mich besser, normaler, wenn man so wollte. Diese Sendung war sicher der »Höhepunkt« des Tages gewesen. Kein Anschreiben. Keine Warnung. Nur dieses grauenvolle »Geschenk«. Ich versuchte, mich in die Person hineinzuversetzen, die so etwas verschickte. Wenn der Finger keine Anspielung auf meine Vergangenheit sein sollte, um mir Angst einzujagen, was dann? Ein Appell. Eine Warnung. Ein Hilferuf. Eines davon. Oder alles zusammen. Gott sei Dank war der Finger nicht frisch. Wenigstens musste ich mich nicht auch noch damit auseinandersetzen.
Eine Stunde lang warf ich mich im Bett herum. Was machte ich hier in
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