Leichenschrei
ich nicht mehr hatte.
Sie erzog mich und machte mich mit der Therapiearbeit vertraut. Aber ich war es, die sich dann für die Arbeit mit den Angehörigen von Ermordeten entschied.
Das Feuer … das hatte ich fast ganz verdrängt. Jetzt hatte ich zum ersten Mal seit Ewigkeiten die Erinnerung daran gesehen. Zumindest einen Teil davon. Ich zitterte vor Ärger und Trauer.
Es ergab Sinn, dass das Feuer und Mrs Lakelands Hass miteinander in Verbindung standen. Aber wie? Wo genau war diese Verbindung? Ich musste das herausfinden.
11
Das einfache Leben
Ich wollte gerade aus dem kühlen Schatten unter dem Ahorn in die blendende Sonne treten, als ich einen Mann am Eingang zum Friedhof entdeckte. Zumindest nahm ich an, es sei ein Mann. Der Tag war heiß für Winsworth im Juni – fast dreißig Grad –, doch er trug einen langen, dunklen Staubmantel – die Art, wie ihn australische Cowboys beim Schafetreiben anhaben. Seine Hand lag am Schirm seiner Baseball-Kappe, als er durch den Steinbogen glitt. Ich war fasziniert.
Er kam mir vertraut vor. Ich forschte in Gedanken nach Menschen, die ich als Kind gekannt hatte, doch es gelang mir nicht, den Mann zu identifizieren. Bei seinem Anblick kamen mir vage Bedenken.
Der Mann ging in Schlangenlinien an den Reihen der Gräber entlang, wobei sein Kopf ständig nach links und rechts wanderte. Er suchte nach etwas. Oder nach jemandem.
Der Typ hatte etwas im Sinn. Bei jedem weiteren Schritt lagen meine Nerven ein bisschen blanker. Ich kaute auf der Unterlippe.
Ich glitt tiefer unter die schützenden Äste des Ahorns und kauerte mich hin, um ihn zu beobachten. Wenn etwas mit ihm nicht stimmte, dann würde er sich entweder davonmachen oder aggressiv werden, das spürte ich. Er arbeitete sich methodisch von rechts nach links vor und kam meinem Versteck immer näher. Ab und zu schnüffelte er in der Luft, wie einer der neun Ringgeister in Der Herr der Ringe. Wie seltsam.
Ich hatte nur flach geatmet und sog die Luft jetzt bewusst tiefer ein.
Jetzt konnte ich ihn besser sehen. Er war nicht groß – vielleicht eins siebzig –, und sein auffällig langer Hals mit dem kleinen Kopf unterstrich das unnatürliche Aussehen noch. Der wehende Mantel machte es auch nicht besser.
Er war fast unter mir, am Fuße des Steilhangs, und kam durch die letzte Gräberreihe auf mich zu. Beim Klettern beugte er sich vor, um jeden einzelnen Grabstein zu untersuchen, erst dann ging er weiter. Er kam näher. Ich atmete schneller. Meine Angst nahm zu. Dabei hatte die Erfahrung mich gelehrt, dass diejenigen, die mir keine Angst machten, die gefährlichsten Typen waren.
Der Friedhofsmann verschwand aus meinem Sichtfeld.
Mist. Ich rieb über die Gänsehaut auf meinen Armen. Lächerlich. Und doch …
Ich rutschte etwas vor, blieb aber im Schatten, und lugte über eine kleine Erhöhung hinweg. Da war er. Er kauerte neben einem Grabstein. Er redete mit Nachdruck; Spucke flog aus seinem Mund, und eine Faust hieb in die Luft. Wie bei Drew Jones.
Aber, nein, dieser Typ war zu dünn, zu klein und sah zu seltsam aus, um Jones sein zu können.
Ich hätte schwören können, dass er sich an einen alten Feind wandte. Beglich er vielleicht eine alte Rechnung? Hatte er Wahnvorstellungen? Oder hörte Stimmen? Möglich.
Es war kindisch von mir, mich hinter dem Baum zu verstecken. Ich sollte mit ihm reden. Vielleicht konnte ich ihm helfen. Ich wollte gerade zu ihm hinuntergehen, als ein lauter Knall die Luft erschütterte. Mein Friedhofsmann lag mit ausgebreiteten Gliedern auf dem Boden. Dabei war es nur die Fehlzündung eines Autos gewesen.
Der Friedhofsmann zitterte vor Angst.
Ich machte mich auf den Weg zu ihm. Ein Pärchen mit roten Nelken kam plaudernd auf den Friedhof. Der Kopf des Mannes ruckte herum, um sie zu verfolgen. Nicht sein Körper, nur sein Kopf. Mann, war der unheimlich.
Als das Pärchen über den Friedhof ging, sprang der Friedhofsmann plötzlich auf, raste den Hügel hinab und sprang über die Steinmauer. Er rannte zu einem beigen Sedan und stieg ein.
Ich beschattete die Augen mit der Hand und wartete darauf, dass er abfuhr. Stattdessen ließ er den Motor etwa eine Minute laufen – ich hätte schwören können, dass sein Blick auf mir ruhte – und fuhr dann langsam davon.
Ich ging zu dem Grabstein, mit dem der Friedhofsmann sich unterhalten hatte.
Auf dem Stein stand »Jeremiah Blake, geboren 1905, gestorben 1942«. Mein Großvater? Das glaubte ich nicht. Ich hatte noch nie von diesem Mann
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