Leichenschrei
dachte ich wirklich, ich sei besser als sie. Vielleicht hatte ich mich gerade mal so weit herabgelassen, jemanden wie Hank zu benachrichtigen. Oh Mann, so empfand ich zwar wirklich nicht, aber …
Ich rang mir ein Lächeln ab. »Lassen Sie uns die Diskussion darüber auf morgen verschieben, ja? Ich bin bedient.« Ich ging zur Tür und hielt sie ihm auf.
Er setzte seinen Hut auf. »Sie wollen es also nicht hören, was? Können wohl nicht mit Ihrer eigenen Fehlbarkeit umgehen? Oder halten Sie sich für so gerissen, dass Sie mich durchschaut zu haben glauben? Was davon trifft zu, hm, Tally?«
Ich wollte eigentlich gerade sagen, dass es mir leidtat, aber dann … »Ich hab diese Scheiße gründlich satt. Dieses Jammern und Jaulen, wenn Männer wie Sie mich wie ein verdammtes Hündchen behandeln. Ich hab fünf beschissene Monate hinter mir, und ich bin zu … nach Winsworth gekommen, um alles zu machen, nur keine Trauerberatungen. Und genau in so was haben Sie mich reingezogen. Außerdem stecken Sie heimlich mit Drew Jones unter einer Decke, und jetzt beschuldigen Sie mich auch noch einer ungeheuerlichen Gefühlslosigkeit, was überhaupt nicht stimmt, verdammt noch mal! Also scheiß drauf, Hank Cunningham, wir unterhalten uns morgen weiter.«
Seine große Pranke packte mich, und dann küsste er mich, dass mir die Luft wegblieb.
16
Zu Hause ist, wo das Herz ist
Am Samstagmorgen erwachte ich erhitzt und irritiert von meinen Träumen, in denen Hank und ich in der Außen-dusche herumturtelten, was ganz sicher am Vorabend nicht passiert war. Verdammt noch mal, er hatte mich nur ein Mal geküsst, dann einfach zum Abschied gewunken, und ich hatte zugesehen, wie er mit seinem bootsartigen Pontiac aus meiner Auffahrt gekrochen war.
Wie konnte ein Mann, der mich so in Wallung gebracht hatte, so schnell aufbrechen und so langsam fahren?
Geheimnisse gab es überall in Winsworth, und dazu gehörte auch das unerklärliche Spiel, das Hank mit mir spielte.
Oder war das vielleicht alles nur Blendwerk? Ich sank zurück in die Kissen. Vielleicht … vielleicht liebte er Laura Beal ja immer noch, vielleicht war sie von ihm schwanger gewesen, und vielleicht hatte er auch mit ihrem Tod zu tun.
Dass er Laura liebte, konnte ich mir vorstellen. Aber sie töten? Das konnte ich mir ganz und gar nicht vorstellen. Ich prüfte meinen Terminkalender. Heute standen weder Telefonate mit Gert noch mit Klienten an, also wählte ich Drew Jones’ Nummer in seinem Camp. Annie hatte gemeint, er sei für ein paar Tage fort, aber es konnte nicht schaden, es trotzdem zu versuchen. Während ich dem Tut-tut des Klingelns lauschte, lud ich meine Fotos aus Lauras Büro auf den Computer herunter. Ich legte auf, als Jones’ Anrufbeantworter ansprang. Ich rief Annie an. Penny stupste mich, und ich ließ sie hinaus. In dem Moment nahm Annie ab.
»Wie wär’s, wenn ich vorbeikomme?«, schlug ich vor.
»Danke, nein. Mir geht’s gut.« – »Es ist doch nichts Schlimmes, über deine Gefühle wegen Laura zu sprechen, Annie.«
»Ich weiß. Es ist wegen Daddy. Als er uns zusammen gesehen hat, hat er sich sehr geärgert. Ich möchte ihn nicht noch mehr aufregen. Äh, morgen ist übrigens die Trauerfeier für Laura, in der Congregational Church, und anschließend die Beerdigung. Danach gibt es noch einen Empfang bei uns. Kommst du? Bitte!«
»Natürlich komme ich.«
»Da wäre noch was. Äh …«
»Was, Annie?«
»Ich könnte schwören, dass mir gestern jemand gefolgt ist. Das war ein ganz komisches Gefühl. Mir ist es kalt den Rücken runtergelaufen. Vielleicht … Ach, ich weiß auch nicht. Vielleicht bin ich wegen Laura so überempfindlich. Aber gefallen hat mir das Ganze nicht. Drehe ich jetzt durch, Tally? Was geht hier vor?«
Ich atmete erst einmal tief durch, um die Angst zu unterdrücken. »Nein, du drehst nicht durch. Es kann schon sein, dass dir jemand folgt, vielleicht, um nach dir zu sehen. Aber, na ja, sei einfach vorsichtig, bis wir bei Lauras Tod mehr durchblicken. Es bringt nichts, unnütze Risiken einzugehen. Okay?«
»Ja.«
»Hast du deinem Vater davon erzählt?«
Sie seufzte. »Der hat doch jetzt ganz andere Sorgen.«
»Sag’s ihm, Annie. Schlepp das nicht allein rum.«
»Aber ich habe doch dich, Emma … äh, Tally. Oder?«
»Ja, das hast du.«
Und so war es auch. Ich sann über Annies Worte nach, während Penny und ich durch den dichten Morgennebel nach Winsworth fuhren. Sie wollten mir nicht gefallen. Ganz und gar
Weitere Kostenlose Bücher