Leichentuch: Band 2 der Blutdrachen Trilogie (German Edition)
wunderschöne Frau im fallenden Regen über die Mauer steigen sehen würde. Aber die Wachen waren froh, im Trockenen sein zu dürfen. Rebekka strich sich das nasse Haar aus der Stirn und atmete die kühle Nachtluft tief ein. Es war kurz nach Mitternacht. Noch war der Morgen Stunden entfernt. Sie schloss die Augen und horchte in sich hinein. Sie fühlte sich so sinnlich wie schon seit langer Zeit nicht mehr. So hatte sie sich zuletzt gefühlt, als sie mit George zusammengelegen hatte …
Was hätte sie dafür gegeben, wenn der Vampir jetzt an ihrer Seite sein könnte! Aber Sankt Georg war tot. Sie war nun der Vampir, der Hüter des Drachenschlafes. Der Drache würde weiterschlafen. Dafür hatte ihr Trank gesorgt. Für die nächsten Wochen, vielleicht Monate, hatte sie Ruhe vor dem Durst des Drachen. Sie fühlte nach ihren Gefährten. Vlad schlief noch immer, ebenso von Steinborn. Wäre er wach gewesen, sie hätte ihn aufgesucht. Er war ein durchaus attraktiver Mann und Rebekka fühlte ein Verlangen, das ein Mann stillen konnte. Von Steinborn hatte sie nie belästigt oder gezeigt, dass er an ihr interessiert war, aber heute Nacht war Rebekka bereit, den ersten Schritt zu tun.
Aber der Freiherr schlief tief und fest und sie wollte ihn nicht wecken. Nostradamus war noch immer wach und so beschloss sie, den Gelehrten aufzusuchen. Wenn sie schon ihr körperliches Verlangen nicht stillen konnte, so doch vielleicht das intellektuelle. Rebekka schlich sich durch die Gänge zu ihrem Zimmer. Es war nicht ratsam, aufzufallen, nackt und bloß, wie sie war. Es würde schwer sein, dies zu erklären und die Wahrheit konnte sie auch schlecht sagen. Sie kleidete sich in ihr ledernes Reisegewand und begab sich zu Michel de Notre-Dames Zimmer. Unter der Tür schien das Licht einer Kerze durch. Rebekka klopfte an die eichene Tür und nach einigen Augenblicken öffnete der verwundert dreinschauende Gelehrte ihr die Tür.
„Oh, Madame, Ihr seid es ...“
„Ich konnte nicht schlafen und wandelte so durch die Gänge, da sah ich Licht unter Eurer Tür durchscheinen und dachte, Ihr seid noch wach, Meister Nostradamus.“, sagte Rebekka und lächelte. „Ich habe da etwas, das ich Euch zeigen möchte. Es ist etwas, das ich gern vor den anderen verborgen halten möchte … besonders vor unserem Gastgeber ...“
Nostradamus trat beiseite und deutete mit eleganter Geste an, dass die Dame doch eintreten möge.
Rebekka nahm in einem der beiden Sessel Platz, die neben einem Tischchen mit Drachenfüßen, einem riesigen Bett mit Baldachin und einem schweren Schrank das Mobiliar des Zimmers bildeten, genau wie in den anderen Räumen, in denen die Gefährten untergebracht worden waren. Nostradamus schloss die Tür und nahm in dem freien Sessel Platz. Wortlos zog Rebekka das Büchlein hervor, das sie in der Ruine gefunden hatte und legte es auf das Tischchen zwischen ihnen. Michel de Notre-Dame starrte auf den ledernen Einband.
„Ihr habt es also doch … gefunden!“
„Oui, Monsieur, c‘est vrai!“, antwortete Rebekka auf Französisch und sie fuhr fort, in der Sprache Nostradamus‘ zu sprechen, denn sie wusste, dass weder Vlad noch seine Domestiken diese Sprache beherrschten. Da sie sich nicht sicher war, was Vlads Absichten oder seine Vorgehensweise betraf, hielt sie dies für sicherer. „Es befand sich unter einer der Bodenfliesen, gut versteckt und geschützt vor denen, die es suchten. Ich habe schon darin gelesen, doch verstehe ich zwar die Worte, doch nicht deren Sinn.“ Der Franzose legte seine Linke auf den Einband des Buches. Er hatte begriffen, weshalb Rebekka Französisch mit ihm gesprochen hatte und antwortete in seiner Muttersprache.
„Madame, ich werde mein Bestes versuchen! Darf ich …?“ Rebekka nickte kurz. De Notre-Dame zog das Buch zu sich heran. Auf dem Umschlag war das Wappen des Drachenordens eingeprägt, der Drache, der sich in den Schwanz beißt. Nostradamus schlug das Buch auf und vertiefte sich in die ersten Seiten. Rebekka saß da und musterte den alten Mann. Er wirkte gutmütig, wie ein weiser Lehrer oder ein vielleicht sogar etwas einfältiger Stubenhocker, mit seinem weißen Bart und dem langen, etwas schütteren Haupthaar.
Aber Rebekka wusste aus von Steinborns Schilderungen, was der alte Mann wirklich war. Sein Ruf als Prophet und Wahrsager der Königin von Frankreich war nur die eine Seite seines Wesens, die, die er der Welt zeigte. Die andere Seite war die eines unerschrockenen Kämpfers gegen die
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