Leichentuch: Band 2 der Blutdrachen Trilogie (German Edition)
bevor meine Zeit abgelaufen ist!“
Der alte Mann klatschte in die Hände und nahezu sofort eilten Diener herbei. Hassan-i-Sabbah erteilte einige kurze Befehle und die Diener huschten umgehend wieder fort. Nach und nach wurden dann Getränke gebracht, neues, frisches Obst und zum Schluss eine große beschnitzte Kiste von offenbar erheblichem Gewicht.
„Ich will Euch etwas zeigen, mein Freund“, begann Hassan-i-Sabbah zu reden, nachdem der letzte Diener gegangen war. Er legte eine Hand auf den Deckel der Truhe und strich langsam über die reichen Ornamente, die das Holz schmückten. „In dieser Truhe befindet sich alles, was in meinem Leben von Bedeutung war und ist. Nun, wenigstens das, was davon übrig geblieben ist. Vieles wurde mir genommen, manches von Menschen, anderes von den Göttern ...“
„Den Göttern?“ Halef Omar sah den alten Mann verwundert an. „Es gibt nur einen ...“
„Nur einen Gott, ja ja, so heißt es. Aber das ist nicht ganz die Wahrheit. Es müsste richtig heißen: Es gibt nur noch einen Gott. Nur einer ist übrig geblieben … doch in den alten Zeiten gab es viele Götter und sie führten Krieg gegeneinander. Glaubt mir, ich bin dabei gewesen!“ Hassan seufzte tief. Halef Omar lief ein Schauer über den Rücken. War der Alte wahnsinnig? Niemand konnte dabei gewesen sein, der heute noch am Leben war ... oder doch? Aber wenn, wie alt war der Alte dann? Als habe Hassan diesen Gedanken vorausgeahnt, beantwortete er Halefs ungestellte Frage.
„Durch ein seltsames Geschick lebe ich schon länger als wohl die meisten Menschen. Ich habe viele Herrscher kommen und gehen sehen. Aber immer war es mein Schicksal, gegen alle Unbill anzugehen.“ Er beugte sich vor, zog und drehte mit flinken Fingern an den Ornamenten und ein metallisches Geräusch verriet Halef, dass der Alte einen Verriegelungsmechanismus betätigt hatte. Der Deckel der Truhe sprang auf und der Alte griff in die Kiste hinein. Er zog einen großen runden Gegenstand heraus, der von einem schwarzen Tuch umhüllt war.
„Kennt Ihr die Sagen der Griechen, Halef Omar? Die Geschichten von Göttern und Ungeheuern?“ Er legte den Gegenstand auf den niedrigen Tisch und setzte sich auf die Liege davor. „Habt Ihr schon einmal von der Gorgo gehört?“
„Natürlich!“, antwortete er heiser. „Wer hat das nicht! Ihr meint die Medusa, nehme ich an.“
„Das war ihr Name, richtig, Medusa von den Gorgonen. Es gab viele von ihnen und alle wurden im Lauf der Zeit getötet. Aber selbst im Tode waren die Gorgonen noch mächtige Wesen, halb Mensch, halb Gott. Das Menschliche konnte getötet werden, was blieb, war die göttliche Essenz, die in ihnen war.“ Er deutete auf den Gegenstand auf dem Tisch. „Was Ihr hier vor Euch seht, ist der Kopf der letzten Gorgo. Sie war eine wunderschöne Frau ...“ Seine Stimme verstummte und traurig sah er auf das stoffumhüllte Bündel. Halef rückte unwillkürlich ein wenig vom Tisch ab.
„Es wird gesagt, dass ihr Blick einen Menschen versteinern kann … ist … ist das ...“
„Ob es wahr ist? Aber sicher!“ Hassan-i-Sabbah lachte leise. „Und nicht nur Menschen!“ Er zog das Tuch mit einer schnellen Bewegung von dem Gegenstand, so schnell, dass Halef keine Zeit mehr fand, den Kopf abzuwenden. Er sah mit schreckgeweiteten Augen in das Antlitz der Gorgo. Wie Hassan gesagt hatte, war es das Gesicht einer wunderschönen Frau, aber es war ein Gesicht aus Stein. Halefs Puls, der in ungeahnte Höhen geschossen war, beruhigte sich wieder. Es war nur das steinerne Abbild eines Gorgonenhaupts!
„Ein Abbild! Ihr habt mich wahrhaftig bis ins Mark erschreckt!“
„Ein Abbild? Nicht doch! Dies ist das wirkliche Haupt der letzten der Gorgonen. Es versteinerte, als sie starb. Als sie gemeuchelt wurde … aber das ist eine andere Geschichte. Doch bedeutet es keine Gefahr für uns, denn ich habe die Unheil bringenden Augen mit silbernen Schalen bedecken lassen. Solltet ihr aber ohne diese Schalen in ihre Augen schauen, so würdet Ihr augenblicklich zu Stein erstarren.“
Halef musterte den schönen Kopf genauer und nun konnte er das schwärzlich angelaufene Silber vom Stein des Hauptes unterscheiden. Ihm graute vor diesem unheimlichen Gesicht, so schön die Züge auch waren.
„Ich zeige Euch dieses Haupt aus gutem Grund. Denn mit diesem Haupt der Gorgo gelang es mir und anderen vor vielen, vielen Jahren, den sogenannten orientalischen Drachen zu bannen. Er sah in diese Augen und wurde zu seinem
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