Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
Bett legte, die Arme eng an den Körper presste und die Beine streckte. Nach ein paar Sekunden wirkte er wie eine Skulptur aus Pappmaschee oder ein ausgestopftes Tier.
Mikael ging zum Pausenraum und verriegelte die Tür hinter sich. Er nahm ein Glas, drehte den Hahn auf und wartete, bis das Wasser kalt wurde.
Er begriff, dass er beinahe etwas unverzeihlich Dummes zu Olavi Finne gesagt hätte. Beinahe hätte er sich bei dem total verrückten Alten bedankt.
Gegen Ende der Schicht saß Mikael mit Laukkanen und Purola im Fernsehzimmer. Sie sahen sich die Nachrichten an, obwohl keiner von ihnen wusste oder wissen wollte, worum es ging. Laukkanen setzte alle dreißig Sekunden zu manischen Erklärungen an, akzeptierte aber ausnahmsweise minimale Reaktionen als Antwort.
Purola war ein siebzigjähriger Pyromane, von dem Mikaelnie mehr als höchstens zwei Worte gehört hatte. Er kam zum Beispiel mit seinem elektrischen Rasierapparat an und sagte: »Geht nicht.« Auf Nachfragen gab er keine Antwort. Geht nicht. Und wenn das Ding wieder funktionierte, kam kein Dank. Purola war ein idealer Patient. Er zeigte nur manchmal abends eine Erregung, wenn die Glimmstängel im Raucherzimmer heller glühten und er ihren Widerschein auf dem Bildschirm sah. Dann drehte er den Körper zu der Lichtquelle hin und atmete schwer. Autio sagte, elektrische Kerzen hätten dieselbe Wirkung, was der Weihnachtsdekoration im Männerflügel Grenzen setzte.
Während des Wetterberichts hörte Mikael, wie Maila im Aufenthaltsraum nach ihm rief. Er stellte sich taub, merkte aber bald, dass es keinen Ausweg gab. Mailas Schritte näherten sich dem Fernsehzimmer.
»Kommst du mal?«, bat sie, als sie die Tür erreicht hatte, und warf einen Blick auf Purola und Laukkanen. Mikael stand auf und ließ die beiden Männer allein vor dem Fernseher zurück.
»Was ist los?«
»Ist dir heute irgendetwas an Finne aufgefallen?«, fragte Maila mit gedämpfter Stimme.
»Nein«, sagte Mikael und spürte ein vages Schuldgefühl. »Wieso?«
»Er hat mich angefasst.«
»Angefasst?«, wiederholte Mikael. Er dachte an Orgien und an die Gestalt, die an der Zimmertür vorbeigehuscht war. »Warum hast du nicht Alarm geschlagen?«
»Das war nicht nötig, er hat mich sofort losgelassen, als ich ihn angefaucht habe.«
»Wo ist das passiert?«
»In seinem Zimmer. Er hat mich plötzlich am Arm gepackt und meine Hand runtergezogen an sein …«
Maila machte mit einer Hand eine kreisende Bewegung, in keuschem Abstand von ihren Lenden.
»Verdammt noch mal«, schimpfte Mikael. »Den knöpfe ich mir vor.«
»Ach was, das hat Zeit bis morgen«, meine Maila. »Ich wollte es dir nur sagen, weil ich es gerade in den Bericht geschrieben habe. Vorsichtshalber sollten wir die Putzfrauen warnen. Jetzt müssten die Medikamente verteilt werden. Hast du Zeit?«
»Natürlich.«
Mikael folgte Maila zum Stationszimmer.
»Meiner Meinung nach war er heute überhaupt ein bisschen unruhig«, fuhr Maila fort.
»Ach?«, entgegnete Mikael. »Ich bin heute kaum dazu gekommen …«
Maila blieb vor Finnes Zimmer stehen, spähte vorsichtig hinein. Sie winkte Mikael zu sich.
Finnes Bett war leer. Er stand am Fenster und blickte nach draußen. Die Scheibe spiegelte sein Gesicht, über den Augen lagen Schatten. Ein leerer Schädel, obwohl er noch lebte. Maila warf einen Blick über die Schulter und lächelte.
»Er hat sich wohl erschreckt«, flüsterte sie. »Deshalb kann er momentan nicht auf den Tod warten.«
»Geschieht ihm recht«, lachte Mikael.
»Ich hätte fest zupacken sollen und dann sehen, was passiert«, sagte Maila und schwenkte die lockere Faust in schnellem Tempo auf und ab.
Mikael war sicher, dass Finne ihre Schatten in der Fensterscheibe sah, und trat zurück. Maila drehte sich um und ging in den Aufenthaltsraum zurück, wo sie mit Alli zu plaudern begann. Mikael machte sich auf den Weg ins Stationszimmer. Während er die Medikamente in rosa Plastikbecher verteilte, überlegte er, was Maila in Finnes Zimmer zu suchen gehabt hatte.
Auf der Heimfahrt kam Mikael an einer Tierhandlung vorbei. Eine alte Frau, auf dem Kopf eine Baskenmütze, kam gerade mit einem leeren Vogelkäfig aus dem Geschäft. Sie gingkrumm, mit kurzen Schritten. Mindestens fünfundsiebzig, vielleicht noch fünfzehn Weihnachtsfeste vor sich. Die meisten davon trist, weil ihre Kinder und Enkel nur miteinander redeten, keine Lust auf Geschichten aus einer internetlosen Welt hatten, in der an allem Mangel
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