Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)
von Pete.
»Da ist sie ja!«, rief Sam Snead.
Livia blieb an der Tür stehen. Ihr noch feuchtes Haar war geflochten und als Kranz um den Kopf gesteckt. Sie hatte zum Essen ein schwarzes Etuikleid angezogen, das weder ihre Blässe noch ihre Magerkeit im geringsten überspielte. Sie sah aus wie eine Schwindsüchtige. Ihre Augen waren schwarz umrandet und glänzten in ihrem angespannten Gesicht.
»Wie ich höre, haben Sie eine kleine Katastrophe erlebt«, sagte Sam Snead zu Livia. »Aber jetzt wird alles gut. Die Visagistin ist sehr gut. Sie wird auch ohne Probe morgen wissen, was zu tun ist. Sagen Sie ihr, reichlich Selbstbräuner.«
Livia lächelte unglücklich. Winn sah, wie sehr sie unter Spannung stand. Wäre sie eine Saite und würde man sie zupfen, würde das einen sehr hohen Ton geben. Daphne, Piper, Dominique und Sam Snead schwatzten immer noch über Make-up und Nagellack. Biddy brach Eiswürfel aus einem Behälter. Celeste und Tabitha sahen vom Tisch aus zu und gaben sich unbeteiligt.
Mit langsamen Schritten bewegte sich Livia auf Agatha zu. Agatha hielt ihr die geöffneten Hände hin, gemeint als hilflose Geste. Ihre Miene versuchte vieles auf einmal zu sein – verschwörerisch, amüsiert, reumütig, unschuldig, trotzig –, aber die Angst siegte. Livia hob beide Hände und umschloss Agathas linke. Es krachte. Agatha schrie auf.
14 · Reichlich fließt
D ie Kirche stand auf dem Steilufer im Osten der Insel, weiß und scharfkantig mit einem weißen Turm, wie ein Scherenschnitt vor dem Himmel. Nur ein schmaler grüner Grasstreifen trennte sie vom Rand des Steilufers. Um die Mauern wogten blaue Lupinen und weiße Löwenmäulchen wie eine Bugwelle über den Halmen, dann kamen noch etwa dreißig Meter Wiese bis an den Rand, wo nichts mehr wurzeln konnte, und die letzten Gräser standen schräg über dem Abgrund. In den beiden Längsseiten der Kirche gab es je fünf hohe, schmale Fenster aus gewelltem, blasigem Glas von blassem, fast farblosem Blau. Eine Rosette über dem Altar ließ einen runden Kreis Sonnenlicht ein, und durch ihr Gegenstück am hinteren Ende des Hauptschiffs blitzte in regelmäßigen Abständen der Leuchtturmstrahl. Die Wände waren weiß, die Bänke aus Kirschholz, und in der Luft hing der Geruch von alten Büchern, Blumen und Möbelwachs.
Livia stand unglücklich vorne neben Dominique. Ihr gegenüber stand Sterling, Daphne und Winn erschienen im hellen Rechteck der offenen Türen, zunächst fast schattenhaft im Gegenlicht. Daphne lächelte; Winn humpelte mit ernster Miene neben ihr her. Livia hatte ausgerechnet mit Sterling durch den Gang gehen müssen, untergehakt; grotesk war das. Er hatte nichts weiter zu ihr gesagt, nurgefragt, ob sie Agatha wirklich einen Finger gebrochen habe. Sie hatte finster vor sich hin gestarrt und versucht, ihn zur Eile anzutreiben, auch noch nachdem Sam Snead sie von vorne mit ihrem Bühnenflüstern aufgefordert hatte, ihr Tempo zu verlangsamen. An Dominiques anderer Seite stand Piper und neben ihr, in sicherer Entfernung, Agatha. Sie hatten nicht genügend Zeit gehabt, um noch einmal in die Klinik zu fahren. Sam Snead hatte Agatha gesagt, wenn sie wolle, könne sie sich nach dem Abendessen röntgen lassen. Onkel Skip, der es sich im gemieteten Ferienhaus auf dem gemieteten Sofa bequem gemacht hatte, wurde von Tabitha herbeibeordert, weil er Arzt war, und er hatte Agathas Finger mit einem Eisstiel geschient. Ein Arzt brauche keine Röntgenaufnahme, um einen gebrochenen Finger zu schienen, hatte er ihr versichert, und ihre Hand mit einem Teil des weißen Verbandszeugs umwickelt, das Winn für sein Bein mit nach Hause bekommen hatte. Schon gar nicht ein Finger, der so sauber gebrochen sei wie ein Grissini. Skip hatte Livia über die Schulter vorwurfsvoll angeschaut, allerdings augenzwinkernd; ihm gefiel die Rolle des kompetenten Fachmanns inmitten all der Frauen, die mit nassen Haaren, mit trockenen Haaren, in ein Handtuch gewickelt oder im Kleid in der Küche ein und aus gingen. Und nun hielt Agatha, gewissermaßen als Probeblumenstrauß, einen Eisbeutel im Handtuch, und ihre Hand war zum Pfadfinderschwur gebunden.
Sterling stand mit den Händen auf dem Rücken da. Er starrte in die Ferne, in Richtung der Orgelpfeifen und der Chorempore. Die gleiche Seersuckerhose, die Livia ihm von den Hüften gezerrt und im Sand von sich getreten hatte, zierte seine Gestalt, auf wundersame Weise gesäubert undgebügelt und mit einem passenden Sakko ergänzt, in dessen
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