Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)
»Na, wollen wir los?«, fragte sie Tabitha.
»Wiedersehen«, sagte Winn abermals. Doch nun knallte die Eingangstür, und Daphne mit Gefolge wehte in die Küche, Daphne im weißen Strandkleid aus Batist, schulterfrei und mit gesmoktem Oberteil, der Rock von dem dicken Bauch mit Winns Enkelkind gebauscht.
»Tabitha!«, rief Daphne. Es folgten Begrüßungen, und alle wurden miteinander bekanntgemacht. Währenddessen wirkte Daphne absolut selig – brautgemäß, schwangerschaftshalber oder vielleicht schlicht von der Sonne rosig angehaucht –, auch wenn sie beteuerte, dass sie zum Umfallen müde sei und unbedingt ein Nickerchen brauche. Winn konnte sich nicht vorstellen, so glücklich zu sein wie sie, nicht in dieser Küche voller Frauen, die alle zu einer Einheit verschmolzen waren, zu einer schwatzenden Hydra, von ihmgeheiratet und gezeugt und in der Waschküche begrapscht und versehentlich beim Sardinenspielen geküsst und für die Planung einer Hochzeit bezahlt. Er war sich nicht sicher, ob er jemals so glücklich gewesen war, wie Daphne aussah. Sollte er es gewesen sein, so besaß er keine Erinnerung daran und keine Hoffnung, es künftig je wieder zu sein. Ihn erwarteten keine großen Überraschungen mehr, keine Schicksalswendungen, die zur Entdeckung großer Glücksvorräte führen könnten. Enkel würden vergnüglich sein, gewiss, doch bei seinem Glück würden sie alle nur Mädchen werden und sowieso bloß Duff heißen. Er hatte die Mauern seines Gefängnisses selbst gewählt, und sie behagten ihm: dieses Haus und das Haus in Connecticut, seine Clubs, sein kleines Auto für die Fahrt zum Bahnhof, die verdreckten Fenster der Metro-North, die blitzblanken Fenster seines Büros, die Beziehung zu Biddy und damit einhergehende Beschränkungen, die Wörter Ehemann und Vater auf einem Grabstein. Was gab es sonst noch? Er verspürte keine unbefriedigte Wanderlust. Er sehnte sich nicht nach einer jungen Frau, einer neuen Familie – und auch nicht nach Einsamkeit, einer Hütte im Wald, einem Angelsee im Norden. Er hatte fast alles, was er sich bewusst wünschte, und trotzdem war seine Welt durch Ambivalenz zu einem anämischen Grau verblichen. Vielleicht wäre alles anders, wenn er einen Sohn hätte.
Eigentlich machte Livia das Meiste von dem, was er sich für einen Sohn vorstellte. Im Ophidian konnten Frauen nicht Mitglied werden, aber immerhin studierte sie an der Harvard University. Sie war eine recht passable Squash-Spielerin und ausgesprochen gesellig. Sie war hübsch und sportlich und freundlich, wenn auch anfällig für wiederkehrende schwarze Stimmungen, hervorgerufen durch die Mondzyklendes Frauenlebens. Sie hätte Winn genügen müssen, doch als er ihr zum Studienbeginn die Taschen und Kisten aufs Zimmer getragen hatte, war er an einer offenen Tür zu einer Zimmerflucht vorbeigekommen, in der lauter Jungen und ihre Väter einander die Hände schüttelten. Über einem Kamin hing bereits ein bordeauxrotes Banner mit einem weißen H. Er blieb mit seinem Wäschekorb voll Bettlaken auf dem Treppenabsatz stehen und starrte diese Fremden an, die ihm so vertraut schienen. Er blieb so lange stehen, bis einer der Jungen sich zu ihm umdrehte und fragte: »Suchen Sie jemanden, Sir?«
»Oh«, sagte Winn. »Verzeihung. Ich habe nur geschaut.« Als sie nickten und sich ansahen, fügte er hinzu: »Ich habe mal in diesem Zimmer gewohnt.«
»Ist nicht wahr«, sagte der Junge. »Das ist cool. Wir haben eine Liste von allen bekommen, die hier gewohnt haben.« Er nahm ein Blatt Papier von seinem Schreibtisch und hielt es Winn hin. »Wer sind Sie?«
»Alexander Tipplethorn«, sagte Winn und deutete auf eine Zeile. »1970.«
»Ich glaube, ich habe Ihren Bruder gekannt«, sagte einer der Väter, ein braungebrannter Mann mit halb zugekniffenen Augen. »James Tipplethorn, Jahrgang ’75?«
Winn hob den Wäschekorb wieder hoch. »Ja.«
»Was macht James jetzt?«
»Ich höre leider nicht viel von ihm«, sagte Winn.
»Ach.« Der Vater zögerte. Dann fragte er: »Und jetzt helfen Sie Ihrem Nachwuchs beim Umzug?«
»Richtig«, sagte Winn. »Pete Tipplethorn. Vielleicht treffen Sie ihn ja mal.«
Winn gestand seine Lüge niemandem, aber seine Freudedaran, Livia zu besuchen, war verdorben. Er mied andere Studenteneltern auch noch in Livias zweitem und drittem Jahr, weil er stets fürchtete, als der traurige Hochstapler erkannt zu werden, der versucht hatte, sich als Alexander Tipplethorn auszugeben, der Bruder von James und Vater
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