Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)

Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)

Titel: Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Shipstead
Vom Netzwerk:
nicht; manche Leute heirateten hundertmal und hatten tausend Stiefkinder; manche Leute schüttelten ihre Keimzellen im Cocktailshaker wie Martinis und ergossen sie in fremde Bäuche. (Aus einer Anzeige, die immer im Crimson stand, wusste Livia, dass jede Menge liebevolle, aufrechte, infertile Paare bereit wären, ihr dreißigtausend Dollar für ihre Eier zu zahlen, so sie denn weiß und sportlich war und die richtigen Noten in den Eignungstest für die Aufnahme an Universitäten vorweisen konnte.) Die Reihenfolge von Liebe, Hochzeit und Kinderkriegen wurde von allen Leuten fröhlich durcheinandergewirbelt, es sei denn, sie waren unter der Obhut von Winn Van Meter, Deerfield und Princeton aufgewachsen, dann galt das nicht.
    Daphne reichte einen Abzug ihres letzten Ultraschallfotos herum. Es entsprach der neuesten Technologie: eine Nahaufnahme des Babygesichts, gelb und wächsern, die Augen halb geöffnet. Livia mochte das Bild nicht, weil es sie an eine Totenmaske erinnerte. Auch hatte sie nicht damit gerechnet, wie sehr Daphnes schwellender Bauch sie an die Leere im eigenen Unterleib gemahnen würde. Nach Neujahr war sie während der ersten Vorlesungstage zu Hause geblieben, um, wie es hieß, den Eingriff vorzunehmen. Biddy fuhr sie ein paar Städte weiter in eine Klinik in einem schlichten braunen Bürohaus. Auf dem Grasstreifen zwischen dem Bürgersteig und einer Schnellstraße voll Pendlerverkehr stand ein einsamer Demonstrant. Sein verbeulter grüner Wagen mit Fließheck war mit unzähligen Aufklebern verziert. Es ist ein Kind, kein Konsumgegenstand. LEBEN. Abtreibung ist Mord. »Guten Morgen!«, rief er mit munterer Stimme und hielt ihnen einen Flyer entgegen.
    »So ein Arschloch«, sagte Livia leise zu ihrer Mutter.
    Biddy legte ihr einen Arm um die Schulter. »Ja. Wir können ihn einfach ignorieren. Er wird uns nicht verändern. Wir werden ihn nicht verändern.«
    »Es ist sieben Uhr morgens«, sagte Livia, »an einem Freitag.« Als sie an der Glastür waren, drehte sie sich um und rief: »Geh arbeiten!« Zur Antwort reckte der Mann eine brennende Kerze in einem Marmeladenglas in die Luft. Livia zeigte ihm den Mittelfinger.
    »Livia!«, sagte ihre Mutter und zog sie in das Gebäude. »Benimm dich!«
    »Er ist ein Arschloch«, wiederholte Livia, aber sie fragte sich, wie es wohl wäre, täglich vor diesem braunen Bürogebäude zu stehen und unablässig für den steten Strom ungeborener Seelen zu beten, die auf Nimmerwiedersehen darin verschwanden.
    Sie schaute in das elektronische Auge der Sprechanlage in einer schweren Tür und sagte ihren Namen. Es summte, und das Schloss klickte. Ein Wachmann kontrollierte sie und Biddy mit einem Metalldetektor und durchsuchte ihre Taschen, bevor er sie durch eine zweite schwere Tür ins Wartezimmer einließ. Sie wurde nach ihrem Namen gefragt und zur Blutabnahme mit nach hinten genommen. Als sie zurückkam, setzte sie sich neben ihre Mutter und blätterte zum Schein in einer Illustrierten, während sie die anderen Leute im Zimmer musterte. Zwei Mädchen in Jogginghosen. Ein Paar um die vierzig, das gemeinsam Kleinanzeigen studierte. Ein älterer Asiate und ein sehr junges Mädchen, von dem Livia hoffte, dass es sich um seine Enkelin handelte. Der Mann stand auf, reckte die Arme über den Kopf und drehte seinen Oberkörper hin und her. Dann blieb er stehen und starrte mit leerem Blick auf den niedrigen Tisch mit denzu bunten Fächern ausgelegten Illustrierten, bis der Wachmann ihn bat, wieder Platz zu nehmen. Livias Name wurde aufgerufen.
    Das Zimmer sah aus wie ein ganz gewöhnlicher Praxisraum, bloß dass an einer Wand ein Gerät auf einem Rolltisch stand, so groß wie ein Wasserkühler und von einer wattierten, erdbeerbedruckten Stoffmütze zugedeckt. Gab es irgendwo auf einem Kunsthandwerkermarkt einen Stand, an dem muntere, handgenähte Accessoires für Abtreiber angeboten wurden? Eine Schwester bat sie, sich bis auf ihren BH und ihre Socken komplett zu entkleiden und ein mit Gänseblümchen gemustertes Hemd überzuziehen. Eine andere Schwester deckte ihren Schoß mit einem Laken zu, zog das Hemd hoch und spritzte ihr eine kalte blaue Gallertmasse auf den Bauch. Flink und vollkommen geschäftsmäßig führte sie eine gebogene Ultraschallsonde über das Gallert. »Ich sehe es«, sagte sie und schaltete den Bildschirm aus. Livia hatte sie bitten wollen, es auch sehen zu dürfen – aus schlichter Neugier, nicht weil sie sich bestrafen wollte oder befürchtete, im

Weitere Kostenlose Bücher