Leichte Turbulenzen - Roman
Zucken um seinen Mund wahrgenommen zu haben. Ihr Blick ruckte zurück und blieb an seinen Lippen hängen. Nein. Nein. Da war nichts. Gar nichts. Sie murmelte: »Bis dann, Bernie. Und nochmals danke!«
Sie ging ruhig an ihm vorbei, Richtung Treppe. Als ihre Hand schon auf dem Messingbeschlag der weißen Schwingtür lag, rief der Security-Mann hinter ihr her: »Noch eine Frage …!«
Ivy drehte sich um, ihr Magen zog sich zusammen, ihre Kiefer verschoben sich gegeneinander: »Ja?«
Langsam kam er auf sie zu, jetzt lächelte er nicht mehr. »Wie sind Sie hier eigentlich reingekommen?«
»Äh …« Ivy zwang sich mit aller Gewalt, cool zu bleiben. Sie leckte über ihre trockenen Lippen, wieder war da nichts in ihrem Kopf, keine brauchbare Antwort, kein Gedanke, nicht mal ein Wort. Ihr Kopf war vollkommen leer. So, als sei sie fremdgesteuert, von einer höheren Macht, streckte sich ihr Arm nach vorne, ihre Hand entfaltete sich wie eine hellrosa Magnolienblüte und legte den Schlüssel frei, den ihre Finger bis eben fest umklammert hatten. Bernie hob entschuldigend die Hand. »Alles klar! Nichts für ungut! Bis Montag!«
Ivy stieß die Tür auf, sodass sie hinter sich den Luftzug spürte, als sie zurückschwang, dann ging sie erst schleppend, Stufe für Stufe, die Treppe hinunter, wurde dabei immer schneller, bis sie schließlich rannte. Die letzten Stufen sprang sie hinunter, rannte durch die Schwingtür, in die Eingangshalle, über den roten, flauschigen Teppich und stieß die Tür zur Marylebone Road auf.
Bevor sie es schaffte, sich die Kapuze aufzusetzen, klatschen von oben dicke Tropfen auf ihren Kopf, ihre Schultern und in den Nacken. Der Asphalt glänzte wie schwarze Lakritze, die rote Madame-Tussauds-Leuchtreklame über ihr spiegelte sich in den Pfützen am Straßenrand, durch die rücksichtslos ein Wagen raste. Das Schmutzwasser spritzte bis hoch in ihr Gesicht. Ivy atmete die Abendluft tief ein, um sich irgendwie zu beruhigen und zu begreifen, was gerade passiert war. In ihrer Jackentasche vibrierte es. Mit nervöser Hand zog Ivy ihr Handy hervor, auf dessen augenblicklich nass geregnetem Display verwaschen Willems Name aufblinkte. Ivy seufzte und hielt sich das Telefon ans Ohr. »Willem?«
»Bist du noch bei Fortier?«
»Keine Ahnung, wo bist du?«
Und während sie das fragte, verlor sie für einen kurzen Augenblick die nötige Achtsamkeit. Willems Schlüsselbund mit dem Madame-Tussauds-Anhänger rutschte ihr aus der Hand und fiel direkt zwischen zwei Gullystreben in den feuchten, mit Algen bewachsenen Schlund des Kanalrohrs. »Shit!« Ungläubig starrte sie auf das Gullygitter, auf dem sie mit ihren gelben Gummistiefeln stand.
Am anderen Ende der Leitung hörte sie Willem aufgeregt rufen: »Was soll das heißen, ›keine Ahnung‹? Seit ungefähr einer Stunde hocke ich in klitschnassen Klamotten in deinem Hauseingang und friere mir den Arsch ab, nur um dich nicht bei deinem Rendezvous mit unserem Chef zu stören. Bist du noch da oder nicht mehr? Ich muss das wissen, denn vermutlich hab ich meinen Schlüssel oben in deiner Wohnung liegen lassen, hoffe ich jedenfalls. Im Vicky Park, wo ich im strömenden Regen sämtliche Sträucher, Hecken und Grasbüschel durchforstet habe, war er nämlich nicht. Weißt du, wie Leute auf Männer in weißen Shorts reagieren, die sich durch Büsche kämpfen?«
»Nein?!«
»Hysterisch!«
Als sie hinter dem grauen Regenvorhang verschwommen ein leuchtendes Taxischild entdeckte, hob sie den Arm. Mutig trat sie auf die Straße hinaus, um ja nicht übersehen zu werden. »Ich komme, so schnell ich kann«, versprach sie Willem und stieg ein.
Der Barnaby Place, an dem Javis wohnte, lag nicht mehr als dreihundert Meter vom Sumner Place entfernt, wo Ivy gerade mal eine Dreiviertelstunde zuvor Hals über Kopf Fortiers Wohnung verlassen hatte. Hier also wohnte Javis. In einem der weißen Stadthäuser, vor denen dicht an dicht die Birken ausschlugen. Die schmiedeeiserne Pforte vor der Nummer 16 war lediglich angelehnt, sodass Ivy sie nur mit der Hand anstupsen und hindurchgehen musste. Dicke Regentropfen klatschten vom Kapuzenschirm auf ihre Nase, die verlaufene Wimperntusche brannte in ihren Augen. Inzwischen hatte sie, trotz der Gummistiefel, nasse Füße. Von oben flossen unablässig kalte Rinnsale auf der Innenseite der Schäfte in ihre Stiefel hinunter. Bei jedem ihrer Schritte quietschte das Wasser unter ihren nackten Füßen. Daran ließ sich nun auch nichts ändern. Es
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