Leichte Turbulenzen - Roman
erreicht hatte, steckte sie sich das dick mit Zuckerguss übergossene Blätterteigteilchen in den Mund. Dafür bemühte sich Ivy, bis zum Nachmittag gar nichts mehr zu essen. Oder besser gleich bis zum Abend. Das klappte, solange sie sich nicht mit Alice zum Lunch traf, deren psychotherapeutische Praxis sich wenige Straßenecken von Madame Tussauds entfernt in einem weißgetünchten Backsteinhaus in der Knox Street befand. Oder aber Willem brachte Ivy ungefragt etwas von der Mittagspause mit. Er hörte einfach nicht darauf, wenn sie zu ihm sagte: »Willy, bitte bring mir nichts mehr mit. Ich kann nicht arbeiten, wenn ich mit Essen vollgestopft bin.«
Vielleicht sollte Ivy es mal mit Jogging versuchen, die Portobello Road rauf und runter. Oder sie konnte Willem mal wieder in den Vicky Park begleiten. Während er angelte, würde sie mehrere Runden um den Westsee drehen, um ihr Blut mit Sauerstoff anzureichern, und hoffen, auf diese Weise eine gesündere Gesichtsfarbe zu bekommen. Am Wochenende hatte Nathalie beim Spazierengehen zu ihr gemeint: »Ivy, du musst dringend mehr Vitamine essen, sonst kriegst du Falten.«
Ja, mein Gott! Auf dem luxury fruit danish lagen doch kleine Stücke Kiwi und Rhabarber und gehackte Pistazien. War das nichts? Würde Javis jetzt hereinkommen, wäre Ivy für ihr Rehabilitationsvorhaben in ihrer Jogginghose und den Ugg-Boots zugegebenermaßen unpassend gekleidet. Frisch sah sie nun wirklich nicht aus. Nach dem Albtraum hatte Ivy beschlossen, nicht wieder einzuschlafen, sondern die pinkfarbene Polly-Pocket-Dose zu suchen, die sie mit sieben Jahren von Cynthia geschenkt bekommen hatte, einer Freundin ihrer Mutter aus alten Findhorn-Tagen, wo sie in den Siebzigern in einer schottischen Selbstversorgersiedlung gelebt hatte, um sich der Spiritualität und Liebe zu öffnen und sich mit der Natur und allem Lebendigen zu verbinden. Ivy wusste, dass diese kleine, heile Welt irgendwo in ihrer Wohnung herumliegen musste. Tatsächlich war sie davon ausgegangen sie in ihrer Schreibtischschublade ganz hinten links zu entdecken. Stattdessen war sie auf einen Stapel Fotos aus ihrer Poetry-Slam-Zeit gestoßen. Sie, Javis, Willem und Tom mit rot geblitzten Augen, zu Besuch in Berlin im Sommer 1998, wo sie an drei Abenden hintereinander aufgetreten waren und auf der Insel der Jugend versehentlich Atropinpillen geschluckt hatten. Kurz darauf war Willem ohne Jeans zwischen den Bäumen und den anderen Ravern über die Wiese geirrt auf der Suche nach seinem Kleiderschrank, in den er seine Hose hängen wollte. Das war wieder einer von Javis’ Menschenversuchen gewesen. Dieses Mal war Willem das Opfer. Sonst hatte es Ivy getroffen. Eilig hatte sie die Fotos zurück in die Schublade gelegt und noch zwei weitere Stunden erfolglos nach der Polly-Pocket-Dose gesucht. Sogar hinter den Büchern hatte sie die Regalbretter abgetastet. Je unwahrscheinlicher das Auftauchen der herzförmigen Dose wurde, desto größer wurde die Befürchtung, dass Javis sie damals einfach mitgenommen hatte. Als Trophäe oder aus sadistischen Gründen. Ivy würde sie sich wiederholen!
Jetzt hatte sie violette Ringe unter den Augen.
Ihr Handy piepste. Schon wieder eine Nachricht von Alice. »Ivychen, du hast gar nicht auf meine letzte Nachricht reagiert. Ist bei dir alles in Ordnung? Ich mache mir Sorgen. Sehen wir uns zum Lunch?« Ivy ließ das Telefon zurück in die Manteltasche gleiten. Sie würde Alice später antworten, wenn sie in der Underground saß und hinüber zur Werkstatt in der Marylebone Road fuhr. Da hatte sie Ruhe. Außerdem nahm Alice um diese Uhrzeit für gewöhnlich ihren ersten Patienten in Empfang. Wie, das fragte sich Ivy immer wieder, konnte man anderen Menschen helfen, wenn man selbst so ratlos war?
Mit ihrem Teller schlängelte sie sich vor bis zum freien Hocker. Bevor sie sich setzte, stellte sie ihre Blätterteigpasteten auf dem schmalen Bord ab, das am Fenster entlanglief. Anschließend zog sie sich ihren dunkelblauen Trenchcoat aus, hängte ihn am Haken unterhalb des Bordes auf und – gerade, als sie sich rücklings auf den Hocker schieben wollte, spürte sie einen leichten Luftzug über ihr Gesicht gleiten. Verwundert sah Ivy hinüber zur Tür, die gerade von einigen hereinkommenden Touristen aufgedrückt wurde. Eine Zehntelsekunde meinte sie, Desmonds Gesicht hinter der Scheibe erkannt zu haben. Doch als sie noch einmal genauer hinsah, war die Straße leer.
Es war fünf nach acht. Ivys Herz
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