Leichte Turbulenzen - Roman
klopfte.
Vermutlich würde es gleich anfangen zu regnen. Sie würde gelassen bleiben. Einfach ihrem gewohnten Leben weiter nachgehen und diesen Amerikaner vergessen. Ivy zog aus ihrer tannengrünen Harrods-Plastiktüte ein Buch hervor, das sie ebenfalls letzte Woche vorne im Buchladen bei Mister Wood gekauft hatte. Vincent van Gogh – Briefe an seinen Bruder .
Ivy blätterte darin herum, ihre Brille hatte sie dummerweise im Bad auf dem Waschbeckenrand liegen lassen, weswegen sie sich das aufgeschlagene Taschenbuch dicht unter die Nase halten musste. Warum konnten nicht wenigstens ihre Augen funktionieren? Ivy überflog die Seiten. Ununterbrochen fabulierte van Gogh von seinen Nöten, verglich sich mit anderen zeitgenössischen Künstlern, die kommerziell erfolgreicher waren als er, und beschwerte sich bei seinem Bruder, dass nicht alle Welt andächtig vor ihm auf die Knie fiel. Aber auch sonst empfand er seine Umgebung als die reinste Zumutung. Die Geräusche, der Lichteinfall, die Farben, die Orte, die Ignoranz – ach, im Grunde genommen war nichts so, wie es für Vincent hätte sein sollen. Er jammerte, zweifelte, fasste ein bisschen Mut, um ihn sofort wieder zu verlieren. Ivy hätte gerne mal das Gesicht seines Bruders Theo gesehen, als er den fünftausendsten Brief öffnete und ihn seiner ermatteten Frau, die gerade ihr erstes Kind geboren hatte, vorlas. »Bitte! Verschon mich!«
Ivy klappte das Buch zu. Ihrer Einschätzung nach hatte sich Vincent geradewegs in sein Leid hineingeredet, anstatt erleichtert zu sein, dass er etwas gefunden hatte, worüber er sich ausdrücken konnte. Nathalie verhielt sich da ganz ähnlich. In der Schulzeit hatte sie ihren Eltern ständig unterstellt, nie von ihnen gelobt zu werden. Noch heute war sie süchtig nach Anerkennung. Genau da lag ihr Problem. Seitdem sie nicht mehr für die Zeitung schrieb, konnte Walter ihr keine hymnischen Mails mehr schreiben oder ihre Artikel einscannen, um sie auf direktem Wege an Ivy weiterzuleiten.
Wie konnte man sich nur so vom Zuspruch und der Liebe anderer abhängig machen? Sobald man das tat, war man schon verloren. Alice sagte immer: »Ich wünschte, ich könnte mich selbst befruchten, dann bräuchte ich keinen Mann.« Und mit einem Mal hörte auch Ivy in sich dieses leise, stetig lauter werdende Ticken, als hätte sie statt des fruit danish eine Zeitbombe verschluckt. Ivy atmete tief ein und aus. Sie war nicht bereit, sich diesem Ticken zu unterwerfen. Sie sah ja an Alice, wohin der unerfüllte Kinderwunsch führte. In die totale Abhängigkeit. Dieses neuartige Ticken wurde lauter. Also summte Ivy. Als das auch nichts brachte, schlug sie ganz leicht mit dem Kaffeelöffel gegen die Cappuccinotasse, um dieses Ticken zu übertönen. Neulich hatte Alice – im leicht angetrunkenen Zustand – gemeint: »Da hilft kein Beschönigen. Ivy, wir stehen kurz vor der Menopause!« Damals hatte diese Bemerkung überhaupt keine Wirkung gezeigt. Aber jetzt. Ivy steckte sich das letzte Stück Plunder in den Mund, trank ihren zweiten Cappuccino aus, nahm ihren Mantel vom Haken und zog ihn erst draußen im Nieselregen an. Von der Natur würde sie sich nicht auch noch in die Knie zwingen lassen.
Trotz allem fühlte sich Ivy seltsam befreit, als sie die Portobello Road hinunter, am Sun in Splendour vorbei, dann nach rechts in die Plembridge Road hineinlief. Es war, als könnte Desmond sie sehen. In Gedanken erzählte sie ihm, dass sie auf dieser Strecke des Weges grundsätzlich auf der rechten Straßenseite ging, an den nach Räucherstäbchen duftenden Hippieläden vorbei, die ihrer Mutter gut gefallen hätten. Wie alles, was sie an ihre New-Age-Kommune oben an Schottlands Küste erinnert hatte. Jahre später hatten sie dort in einem silbriggrünen Trailer die Sommerferien verbracht. In der Vormittagshitze waren Nathalie und Ivy den »Field of Dreams« unter den tiefhängenden Ästen der Blutbuchen und Birken hinunter gelaufen, am niedrigen Druckereigebäude vorbei bis zum Shop, in dem neben Biogemüse auch spirituelle Ratgeber wie Kindness Is the Best Investment angeboten worden waren. Hier also hatte die Mutter als junges Mädchen versucht die Welt zu einer besseren zu machen.
Ivy beschleunigte ihre Schritte, bis die Plembridge auf die Kensington Park Road traf. Sie überquerte den Zebrastreifen, der hinüber zur Notting-Hill-Gate-U-Bahnstation führte. An der Ampel staute sich der Verkehr. Sie sah sich mit Desmonds Augen, wie sie sich geschickt zwischen
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