Leichte Turbulenzen - Roman
meine Kinder eine glückliche Kindheit verleben. Und die ist nur gewährleistet, wenn ich es schaffe, ruhig zu bleiben.« Dann zog sie die Tür hinter sich zu. Ivy setzte sich zurück an den Schreibtisch, wo sie sich bei Facebook unter Sally Salmon anmeldete. Auf der Suche nach Desmond Gayle. Doch der war nicht da.
4.
Am nächsten Morgen stand Ivy in der Schlange in Gail’s Artisan Bakery, drei Straßenecken von ihrer Wohnung entfernt, und gab sich alle Mühe, ihren Albtraum von letzter Nacht nicht wiederaufleben zu lassen. Schweißgebadet war sie gegen vier Uhr morgens aufgewacht mit der Gewissheit, vollkommen allein auf der Welt zu sein, ohne Aussicht auf Rettung. Im Traum hatte Javis ihr auf einer Studentenparty, in einer wildfremden WG -Küche, mit wenigen Sätzen verklickert, dass er nicht mit ihr, sondern mit einer gewissen Miranda nach Hause gehen werde. Ivy hatte Einspruch erheben wollen, aber Javis war bereits wieder auf dem Weg nach draußen gewesen. »Fang bloß nicht an zu heulen.« Schon war er im Partygetümmel verschwunden, um Miranda einzusammeln.
Ivy hatte sich im Bett aufgesetzt, überschwemmt von bodenloser Hilflosigkeit. Die einzige Person, die sie von diesen Zwangsreisen in die Vergangenheit hätte befreien können, wäre selbstverständlich Desmond gewesen. Schniefend hatte Ivy ihre Nachttischlampe angeknipst und auf Facebook noch einmal nach ihm gesucht, ihn aber nicht gefunden. Irgendwo musste er doch in diesem Netzwerk stecken. Schließlich hatte sie auf Google-Bilder ein älteres Foto in Schwarz-Weiß von ihm gefunden, das ihn lächelnd neben einer Topfpalme als Mitarbeiter der ABC Daily Soap All My Children zeigte.
Nun, um acht Uhr morgens, war Ivy in der Verfassung, Javis eine zu scheuern. Sie hatte seinen verächtlichen Gesichtsausdruck genau vor Augen. In Gedanken schlug sie kräftig zu und trat ihm mehrfach und kurz hintereinander gegen das Schienbein. Gleichzeitig hielt sie Ausschau, ob Desmond zufällig die Bäckerei betrat, was theoretisch möglich gewesen wäre. Dieses Mal hätte sie alles richtig gemacht. Souverän hätte sie ihm mitgeteilt, dass sie ihn selbstverständlich zu Thanksgiving begleiten würde. Dann starben sie wenigstens gemeinsam beim Flugzeugabsturz.
Die Touristen drängten sich um die hübsch dekorierten Tische, auf denen Berge von Croissants, bunten Kringeln und Cup Cakes aufgebaut waren. Es duftete nach Lasagne und Kaffee. Wenn Desmond schon nicht hereinkam, dann bitte wenigstens Javis. Ivy hätte nur zu gerne gewusst, wo er jetzt wohnte. Sie würde Willem nachher fragen. Sporadisch hatte er noch Kontakt zu den Leuten von damals, mit denen sie während des Studiums exzentrische Poetry-Slam-Performances auf die Beine gestellt hatten. Mit nasaler Stimme hatte Javis selbstverfasste Gedichte über eine Frau namens Bunny vorgetragen, die sich gefesselt in einem brennenden Bett räkelte, während gleichzeitig eine Kuh namens Buffy auf einem saftigen Grashügel muhte und wehmütig über Colorados weite Steppe blickte. Dazu hatte der wasserstoffblondierte Tom, der an der University of Surrey Theaterwissenschaften studierte und Regisseur werden wollte, Techno aufgelegt, wodurch Javis immer schneller hatte sprechen müssen, um mit dem stampfenden Rhythmus irgendwie mithalten zu können. Ivy und Willem hatten dazu die Multimediashow kreiert, wozu sie den Blasenwurf der WG -Lavalampe und einen an einer Angelschnur befestigten pinkfarbenen Dildo (den hatte Willem souverän in einem Sexshop erstanden) abgefilmt und übereinandergeschnitten hatten. Willem hatte ihn oben an der Schnur festgehalten und wie ein Wahrsagerpendel von sich weggehalten: »Chuck, glaub’s mir! Das ist Avantgarde! Wir schreiben Kunstgeschichte!«
Ivy würde Javis finden, ihre Würde wiederherstellen und mit der Vergangenheit ein für alle Mal abschließen. Vorne am Fenster war noch ein einzelner Barhocker frei. Vor ihr standen noch fünf Leute in der Schlange, einer von ihnen setzte sich garantiert dorthin. Jeden Morgen trank sie zwei doppelte Cappuccini. Grundsätzlich bestellte sie gleich beide, um nicht zweimal anstehen zu müssen. Dazu aß sie einen chausson aux pommes und einen fruit danish . Anschließend beschloss sie, nie wieder etwas von dem süßen Blätterteigzeug zu essen, das ihr bis mittags schwer im Magen lag. Doch am nächsten Morgen stand sie wieder mit all den Touristen in der Schlange und hörte sich »fruit danish« sagen. Und schon im Gehen, bevor sie ihren Platz am Fenster
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