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Leichtes Beben

Leichtes Beben

Titel: Leichtes Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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Urlaub genommen, die Balkonblumen gegossen, die Rollläden ein Stückchen heruntergelassen und sich anschließend mit der mit dem Nötigsten gepackten Reisetasche Richtung Bahnhof aufgemacht. Hinter den Fensterscheiben im Treppenhaus hatte das Grün der ausschlagenden Kastanien geleuchtet. Es war Mitte Mai, und das Thermometer zeigte dreiundzwanzig Grad.
    Als er eine knappe Woche zuvor den Umschlag aus dem Briefkasten genommen und dessen Inhalt im Aufzug gelesen hatte, war im Handumdrehen alles wieder da gewesen: die rauchend auf dem Schulhof im Halbkreis zusammenstehende Clique, Ingrids offenes, ihm liebevoll zugewandtes Gesicht. Und natürlich Sarah Hübners Silhouette, deren ganze atemberaubende Erscheinung ihn noch Jahre später bis in seine Träume hinein verfolgte. Wie oft hatte er sich damals vorgestellt, mit ihr, der vierzehn Jahre Älteren, Sex zu haben. Im Fahrradkeller. Im nächtlichen, vom hereindringenden Mondlicht schwach illuminierten Lehrerzimmer. Ganz gleich, wo. Seit ihrer ersten Begegnung hatte er |38| an nichts anderes mehr denken können als daran, sie zu berühren. Während des Unterrichts hatte er sie manchmal minutenlang mit offenem Mund angestarrt, wenn sie mit dem Schwamm in der Hand an der Tafel stand und etwas anschrieb, wobei ihr T-Shirt hochrutschte und ein Stück ihres Rückens entblößte. Dabei war er damals fest mit Ingrid zusammen gewesen, auf die einige aus der Clique scharf gewesen waren. Trotzdem hatte er sich unentwegt nach ihr gesehnt, nach Sarah Hübner, seiner Englischlehrerin.
    Mein Gott, die Hübner, dachte Bronnen und registrierte zu seiner eigenen Überraschung ein sehnsüchtiges, altvertrautes Ziehen im Bauch. Die muss doch inzwischen über fünfzig sein, rechnete er und spürte, dass ihn diese Vorstellung befremdete.
    Abiturtreffen, nach zwanzig Jahren! Das erste Wiedersehen mit den einstigen Mitschülern: Fritz, Paul, Ingrid und den anderen. Interessant, hatte Bronnen spontan gedacht, als er das Schriftstück umständlich in den Umschlag zurückgeschoben hatte, aber auch: Wieso ausgerechnet mitten in der Woche? Und weshalb dort, auf dem Land? Mehr als drei Zugstunden entfernt?

    Als er das Zugabteil betrat, zog er als Erstes die Fensterscheibe herunter, und beim Anfahren drang ihm sogleich der süßlich-frische Geruch des lilafarbenen, die Gleise säumenden Sommerflieders in die Nase.
    Bronnen nahm am Fenster Platz. Er nippte an seinem Kaffee, starrte hinaus, wo die Braun- und Grüntöne der Landschaft in rascher Folge wechselten. |39| Mit jedem Schienenkilometer, den sie zurücklegten, brachte der Zug ihn auf direktem Weg zurück in die Vergangenheit. In eine Zeit, in der sein Denken etwas Diffuses besessen hatte, jedenfalls kam ihm seine Jugend im Rückblick so vor. Als ein Zustand der dauernden Verwirrung, des puren Gefühls. Dass er einmal, nach drei Jahren als wissenschaftlicher Assistent in den USA, Inhaber zahlreicher Patente sein und erfolgreich für die Industrie forschen würde, das hätte er sich damals nicht träumen lassen. Was wohl aus ihr geworden war in all den Jahren? Und wie sie wohl heute aussah?
    Als er zwei Stunden später in ländlicher Gegend in einen sogenannten Trans-Regional umstieg, waren die Baumschatten bereits länger geworden, und die Wiesen und sanften Erhebungen leuchteten im warmen Licht des frühen Nachmittags.
    Das gemächlich dahingleitende Gefährt erinnerte ihn plötzlich an die rostroten Triebwagen, die er als Kind durch seine an Weihnachten im Wohnzimmer stehende und von zwei Holzböcken gestützte Eisenbahnlandschaft manövriert hatte. In dem rundum verglasten, zur Führerkabine hin offenen Waggon befanden sich außer ihm nur noch einige ältere Frauen sowie ein junges Paar mit einem Kinderwagen.
    Bronnen gab sich ganz dem gleichmäßigen Gerüttel hin. Stundenlang hatte er als Junge vor der weitläufigen, grasgrün gestrichenen und von innen beleuchteten Pappmaché-Landschaft gestanden und mit einer Schaffnermütze auf dem Kopf und einer Trillerpfeife um den Hals an den Trafos hantiert, über die er diverse, gegenläufig durch Berg und Tal fahrende Züge |40| steuerte. Regelmäßig hatte er zu Füßen der Eisenbahn geschlafen, um schon frühmorgens, wenn seine Eltern noch schliefen, damit spielen zu können.
    Am liebsten hatte er es, wenn alle Rollläden geschlossen waren und die Lichter in den Häuschen und die Signale an der Strecke anheimelnd schimmerten.
    Mein Gott, wie lange das her ist, dachte er und sah hinaus, wo vor

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