Leichtes Beben
springen, und Melissas jäher Schrei zerriss das Schweigen der Nacht. Die Stöße gingen durch seine Füße in den Magen und stiegen in seine Kehle. Dann war wieder alles ruhig, und Dresen rief: »Was war das?«
»Na, was wohl, Schlaumeier?«, erwiderte der andere mit irritierender Gelassenheit. »Die Erde hat gebebt. Und wenn schon!«
»Oh, mein Gott!«, rief Melissa. »Ein Erdbeben!«
Der Typ, der im Gegensatz zu Dresen offenbar einen Plan hatte, lehnte weiter lässig und so, als hätte es das Beben überhaupt nicht gegeben, gegen einen Baumstamm und leuchtete Melissa mit der Taschenlampe immer wieder ungeniert ins Gesicht und auf ihre Brüste, die ohne BH deutlich durch den dünnen Stoff ihres Kleides zu sehen waren.
|143| Dresen dachte daran, dem Kerl den Spaten an den Kopf zu knallen. Doch das Graben erschöpfte ihn so, dass er davon abließ.
Nach einer Weile zog der Typ die Mütze bis zur Nase hoch, steckte sich eine Zigarette an und blies den Rauch genüsslich in die lauwarme Nachtluft.
»Was soll’n das hier werden?«, rief Melissa wieder. Inzwischen hatte sie sich auf dem Waldboden niedergelassen und sah Dresen im Schein der Lampe dabei zu, wie er sich abmühte.
»Wirst du gleich sehen«, erwiderte der Typ mit der Flinte und schnippte die x-te Kippe in hohem Bogen neben Dresen in das tiefer werdende Loch. Die Zufriedenheit, mit der er das tat, war bis hinunter zu Dresen zu spüren.
Neben dem Loch türmten sich Steine und Erde, und immer wieder flogen mit der Erde kleine Wurzelstücke heraus. Fluchend und schweißüberströmt grub Dresen, stieß den Spaten aber bald mit immer weniger Schwung in die würzig riechende Erde. Bis er nach etwas mehr als drei Stunden erschöpft aufgab und rief: »Ich kann nicht mehr!«
Der Typ ließ sich den Spaten geben und schubste Melissa schroff zu Dresen hinunter. Sie hatte ihn angefleht, sie gehen zu lassen, sie hatte ihm Geld und ihren Schmuck angeboten. Doch der Typ hatte nur gelacht.
Sie schrie auf, als sie in Dresens Arme sank. Und bereits im nächsten Moment begannen die ersten Erdbrocken auf sie niederzuregnen.
»Mit einem schönen Gruß von deiner Frau, Arschloch!«, |144| rief der Typ und schleuderte immer neue Ladungen Erde auf sie herab.
»Nein, aufhören, hören Sie auf!«, schrie Melissa. »Bitte!« Dabei hätte sie sich doch längst an fünf Fingern abzählen können, was der Typ mit ihnen vorhatte.
Mit geradezu irrwitzigem Gleichmaß ließ der die Erde auf sie prasseln. Natürlich hatte Dresen, was diese ganze Sache anging, ziemlich versagt. Denn kein einziges Mal hatte er, solange dazu noch die Möglichkeit bestanden hatte, ernsthaft versucht, den Typen zu überwältigen.
Unterdessen konnte er sich kaum mehr regen. Trotzdem gab er sich der Vorstellung hin, später, wenn das hier alles vorbei wäre, in einer anderen Stadt ein neues Leben anzufangen. Bis Melissas sich auflösender Körper plötzlich jene Rätselhaftigkeit annahm, aus der Begehren erwächst.
Sein Verlangen nach ihr verwirrte und entzückte Dresen zugleich. Denn hier, unmittelbar neben ihm, war alles, was er zuletzt wie nichts anderes begehrte.
Nun würden Melissa und er also für immer zusammen sein, auch wenn das sicher das Allerletzte war, was seine Frau gewollt hatte.
|145| Vierzehn
Hagedorn eilte die Treppe des Schauspielhauses hinab, blieb am Bordsteinrand stehen, blickte sich kurz um, überquerte zügig die Schumannallee und strebte dem Taxistand zu. Entschlossen stieg er in einen der bereitstehenden Wagen, ließ sich ins Polster des Rücksitzes sinken, schloss die Augen und sagte: »Fahren Sie los!«
Die Person hinterm Steuer, der Hagedorn in seinem Zustand keinerlei Aufmerksamkeit schenkte, startete daraufhin den Motor und fragte: »Wo soll’s denn hingehen?«
Hagedorn schlug die Augen auf, und mit Blick auf die hinter der Scheibe vorbeifliegenden Schaufenster sagte er: »Keine Ahnung. Fahren Sie einfach nur ein bisschen herum!«
Sie fuhren über die dreispurige Stadtautobahn. Die Fassaden der Bürogebäude glitten vorüber, glitzerten kurz und waren weg. Hagedorn zog seine Brieftasche hervor, nahm einen Fünfziger heraus und streckte ihn mit großer Geste zwischen den Vordersitzen hindurch nach vorn.
»Hier, das sollte fürs Erste genügen«, sagte er. Dann |146| ließ er die Brieftasche wieder in der Innentasche seines Jacketts verschwinden, legte sich zurück und schloss mit gegen die Kopfstütze gelehntem Kopf die Augen. Er wollte nichts mehr sehen, hatte genug
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