Leichtes Beben
anständigen Strick in die Hände gefallen waren.
»Hier. Das bin ich als Junge«, sagte sein Vater und deutete auf einen etwa Zwölfjährigen, der auf einer an den Rändern gezackten, gelbstichigen Schwarzweißfotografie zu sehen war. Er stand neben einem viel zu großen Herrenfahrrad und lachte in die Kamera. Es folgten Aufnahmen aus seiner Zeit bei der Armee. Wieder andere zeigten ihn als jungen Mann auf einem Motorroller, und Georg konnte sich nur wundern, wie viele Bilder sein Vater von sich besaß. »Das war zu der Zeit, als ich deine Mutter kennenlernte«, sagte er, und es klang, als bedauere er, nicht mehr der junge Mann auf den Fotos zu sein.
Georg holte noch ein paar Mal Bier aus dem Kühlschrank, und von Zeit zu Zeit fiel sein Blick auf den im Teppich verschnürten Toten. Doch sobald sein Vater ein neues Album aufschlug und seine Aufmerksamkeit forderte, vergaß er ihn.
Der Regen trommelte, und der Wind ließ die Dachkandel klappern. Es ist, als stünde die Zeit still, dachte |131| Georg, und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte es immer so weitergehen können, mit noch mehr Fotos und immer neuen Bierflaschen. Doch dann klappte sein Vater das letzte Album zu, sah ihn an und sagte: »Jetzt wird’s aber Zeit.«
Inzwischen war es weit nach drei Uhr und das Blut des Toten auf den hellen Marmorfliesen zu einer dunklen Schicht geronnen. Georg war müde und hatte inzwischen Mühe, vollständige Sätze zu bilden. Hinter seiner Stirn spürte er den Alkohol, dazu ein Taubheitsgefühl in den Händen, die schwer auf seinen Oberschenkeln lagen.
»Wo steht dein Wagen? Wir schaffen ihn in den Kofferraum!«, sagte sein Vater, der sich so klar und deutlich artikulieren konnte, als hätte er in den letzten Stunden keinen Schluck getrunken.
»Mach du das«, sagte Georg und hätte sich am liebsten mit geschlossenen Augen auf dem beheizten Marmor ausgestreckt. »Er steht draußen.« Schwerfällig fischte er den Schlüssel aus seiner Tasche und wirbelte ihn mit einem Schlenker seines Handgelenks über den Fußboden. »Vielleicht sollten wir doch lieber die Polizei rufen«, sagte er, denn die Vorstellung, den Toten in den Kofferraum seines Wagens zu schaffen, behagte ihm plötzlich überhaupt nicht. Noch dazu bei dem Regen. Außerdem konnte man leicht in eine der nachts üblichen Verkehrskontrollen geraten.
»Na los, komm schon!«, zischte sein Vater, und anstelle der erschöpften Gleichgültigkeit, die Georg gewöhnlich in seinen Augen sah, glomm in ihnen nun ein entschlossenes Leuchten. Unwillig erhob er sich. |132| Die paar Rühreier, die er zum Abendessen verspeist hatte, stießen ihm auf, und er spürte, wie ihn das verlockende Gefühl überkam, sich einfach nur noch treiben zu lassen. Darum sagte er: »Lass uns noch warten.«
»Worauf denn, bitte schön?«, entgegnete sein Vater. »Meinst du vielleicht, der wird wieder lebendig? Nix da, wir schaffen den Kerl jetzt da raus.«
»Und was dann?«, fragte Georg. »In meinem Wagen kann er ja wohl nicht bleiben.«
»Abwarten«, antwortete sein Vater, der die ganze Sache hier inzwischen offenbar wie einen seiner Nebenjobs anging, die er an den Feierabenden oder an den Wochenenden ausübte, um sich seine Extratouren finanzieren zu können, allen voran seine Besuche im Spielcasino.
Nachdem er den Kofferraum des Wagens aufgeschlossen hatte, wuchteten sie den Toten gemeinsam hinein. Anschließend steuerte sein Vater den Wagen Richtung Schnellstraße. Die Fahrbahnbegrenzung war nur noch schemenhaft auszumachen. Und Georg, der auf dem Beifahrersitz saß, dachte, dass bei dem Wetter mit Kontrollen wohl nicht zu rechnen sei.
Ein paar Mal schien der Wagen auszubrechen und schlingerte gefährlich. Nur selten kamen ihnen Lichter entgegen. Dann bog sein Vater von der Schnellstraße ab, und sie fuhren noch eine Zeitlang scheinbar ziellos durch die Nacht. Bis sie durch eine Art Industriepark rollten.
Nach einer Weile sagte der Vater: »Wir sind da!«
Georg wischte ein Guckloch auf der Seitenscheibe |133| frei und starrte nach draußen. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wo sie waren.
»Los, komm!«, sagte sein Vater und sprang aus dem Wagen. Also gab Georg sich einen Ruck und stieg aus. Wie es aussah, standen sie vor einer Müllkippe, denn trotz der frischen Regenluft stank es fürchterlich.
Georg hatte das Gefühl, sich jeden Augenblick übergeben zu müssen. Über dem schwach beleuchteten Gelände hatten sich die Ausdünstungen der Abfälle zu einem dichten gelblichen
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