Leichtes Beben
von dieser Stadt, in der er einige spektakuläre Erfolge gefeiert hatte.
Mit seinem energisch gegen die Textvorlage gespielten Mann aus Fosses »Traum im Herbst« hatte er sie zu Beifallsstürmen hingerissen. Und nach seiner Premiere als Krapp in Becketts »Das letzte Band« hatten sie ihn fast nicht mehr von der Bühne gelassen. Doch das lag inzwischen mehr als zwei Jahre zurück.
Tonlos ging Hagedorn auf einmal jener Satz über die Lippen, der ihm damals während der Proben zu Fosse
s
»Traum« richtungsweisend erschienen war. Ein Satz, der ihm, da er nie wieder auf einer Bühne in dieser bornierten, kunstfeindlichen Stadt stehen würde, auf erschreckende Weise aus der Seele sprach: »Denke und denke. Ich sitze hier und bin vielleicht traurig.«
»Wie bitte?«, sagte die Frauenstimme.
»Ach, nichts«, erwiderte Hagedorn und gab sich minutenlang dem ruhigen, gleichmäßigen Geschaukel des Wagens hin.
»Seit wann fahren Sie Taxi?«, fragte er irgendwann, um nicht unhöflich zu erscheinen.
»Noch nicht so lange«, antwortete sie und erwiderte seinen Blick im Spiegel. »Aber mit der Zeit gewöhnt man sich dran.«
»Ja«, sagte Hagedorn bitter. »Mit der Zeit kann man sich an vieles gewöhnen. Sogar daran, überflüssig zu sein.«
|147| Der Autobahn folgend, umfuhren sie den innersten Stadtgürtel. In der Ferne ragten die Spitzen der gelb oder grün beleuchteten Banktürme auf.
»Na, kommen Sie!«, sagte die Fahrerin, »Weshalb so bitter?« Dabei angelte sie, während sie mit der linken Hand das Steuer hielt und auf die Straße sah, mit der rechten nach den auf dem Beifahrersitz liegenden Zigaretten. »So schlimm wird’s ja wohl nicht sein.«
»Ach, hören Sie auf!«, erwiderte Hagedorn und machte mit der Hand eine wegwerfende Geste.
»Stört es Sie, wenn ich rauche?«, fragte die Fahrerin und drückte den Knopf des Anzünders.
»Nein, nur zu!«
Das war’s also. Aus, Schluss und vorbei. Dabei hatte das Publikum ihn mit durchaus freundlichem Applaus von der Bühne entlassen. Sie hatten seinen »Billigesser« gemocht, das konnte niemand bestreiten. Ganz im Gegensatz zur künstlerischen Leitung des Hauses, für die eine Verlängerung seines Vertrags offenbar kein Thema mehr gewesen war. Sie hatten ihm den Stuhl vor die Tür gesetzt. Einfach so. Ohne ein Wort. Dabei war Wilhelm Hagedorn fest davon ausgegangen, seine Karriere hier ausklingen lassen zu können. Eine, vielleicht zwei Spielzeiten noch, und dann hätte er ihnen diese Entscheidung abgenommen und sein Bühnenleben selbst in aller Stille beendet. Doch sie waren ihm zuvorgekommen.
Ich hätte dagegen protestieren müssen, dachte Hagedorn, wie sie so durch die Nacht fuhren. Als die Einladung zu einem Gespräch über eine mögliche |148| Vertragsverlängerung aber einfach nicht kam, hatte er dies wortlos hingenommen. Denn in seinem Alter bettelte man nicht mehr um die Verlängerung eines Vertrages. Man bekam ihn oder zog erhobenen Hauptes die Konsequenzen! Früher hätte er in solch einer Situation einfach anderswo neu angefangen. Doch mit fünfundsechzig war das etwas anderes.
»Sie wollen mich nicht mehr!«, sagte Hagedorn mit Blick aus dem Fenster, vor dem die Parkplatzlichter eines Großbaumarkts vorbeizogen.
»Wer sind denn die?«, fragte die Fahrerin und blies den Rauch geräuschvoll gegen die Windschutzscheibe.
»Die beim Theater«, antwortete Hagedorn und lehnte den Kopf gegen die Scheibe. »Bin denen plötzlich zu alt.« Er schielte in die da und dort von Lichtern durchbrochene Nacht.
»Sind Sie vielleicht Regisseur oder so was?«, fragte die Fahrerin und lenkte den Wagen von der Stadtautobahn in ein Wohngebiet. Nun säumten eintönig wirkende mehrstöckige Blocks ihren Weg. Hagedorn kannte die Gegend, denn einer der Bühnenbildner wohnte in einem der gesichtslosen Häuser. Nach einer Premierenfeier hatten sie mit ein paar Leuten in dessen Wohnung bis in die Morgenstunden weitergefeiert.
»Schauspieler«, erwiderte Hagedorn. »Nein, falsch, Exschauspieler!«
»Was spielen Sie denn so?«
»Zuletzt hab ich fast nur noch alte Männer gespielt, die die Nase voll haben von allem.«
»Klingt irgendwie traurig«, sagte die Fahrerin.
|149| »Ja«, sagte Hagedorn und spürte, wie ihm ein saurer Geschmack über die Zunge lief. »Waren Sie schon mal im Theater?«, fragte er.
»Ich gucke lieber Fernsehen«, sagte sie.
»Schade«, sagte er.
»Das müssen Sie jetzt sagen.«
»Ja, vielleicht.«
Inzwischen waren sie sicher eine halbe Stunde
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