Leichtes Beben
Offenheit und die ungebremste Schärfe seiner Worte. Und sogleich dachte er: Nein, so hätte ich das nicht sagen sollen! Oh, Gott! Was ist eigentlich in mich gefahren?
Er sah Andernach an, der ihm offenbar die ganze Zeit interessiert zugehört hatte, und sagte beschwichtigend und wie zu sich selbst: »Äh, na ja. Das sind halt solche Gedanken, aber ganz so schlimm ist es natürlich nicht. Sie wissen schon, was ich meine!«
Er zog ein Tuch aus seiner Tasche, nahm seine Brille ab, wischte sich den Schweiß von der Stirn und sagte: »Verdammt heiß hier drin. Finden Sie nicht auch?«
»Geht so«, sagte Andernach, zog sein iPhone hervor und drückte einen Knopf. Fitzek glaubte, die Sache hätte sich damit erledigt, und war froh, dass ihm weitere Ausführungen erspart blieben. Doch auf einmal sah Andernach ihn interessiert an und sagte: »Warum machen Sie denn nicht etwas anderes, wenn Ihnen Ihr Job dermaßen zuwider ist?«
Im selben Moment ging die Tür auf, und Raik kam herein. Fitzek überlegte kurz, setzte fahrig seine Brille wieder auf und antwortete: »Und warum schreiben Sie immer noch Kritiken?«
»Weil ich zu feige bin, ganz auf das Bücherschreiben zu setzen, darum«, sagte Andernach, ohne zu überlegen. »Denn ohne das, was ich mit den Buchkritiken und allem anderen verdiene, kann ich mir das Leben, das ich jetzt führe, nicht mehr leisten. Ich müsste meinen Lebensstil ändern, müsste mir eine kleinere Wohnung suchen und meinen Wagen abschaffen. Doch dazu fehlt mir der Mut.«
|263| »Aber dann sind Sie ja gar nicht anders als die, auf die Sie vorhin geschimpft haben«, sagte Raik und nahm wieder Platz.
»Wenn Sie so wollen«, sagte Andernach und verstaute mit langsamen, ruhigen Handgriffen sein Telefon.
»Das klingt irgendwie traurig«, sagte Raik.
»Ja, kann sein«, sagte Andernach.
»Aber es liegt doch alleine an Ihnen, ob Sie etwas dagegen unternehmen«, sagte Fitzek, der sich wieder gefangen hatte. »Es zwingt Sie doch niemand, diese Kritiken zu schreiben. Oder diese angeblichen Genies zu interviewen, die sich nur für sich selbst interessieren.«
»Nein, das stimmt«, sagte Andernach. »Aber ich werde es trotzdem weiter tun. So, wie Sie weiter Ihre Patienten empfangen werden, obwohl Sie sie eigentlich dafür verachten, dass Sie ihnen helfen sollen, ihr Leben wieder in den Griff zu kriegen. Denn Ihnen hilft ja auch keiner, stimmt’s?«
»Doch. Mein Supervisor«, sagte Fitzek.
»Na toll«, sagte Andernach, wobei er Fitzek verschwörerisch ansah.
»Ja«, sagte Fitzek und musste nun ebenfalls grinsen.
»Gleich zwei Uhr«, sagte Raik und machte es sich auf seiner Bank bequem, indem er sich seinen zu einer Rolle geformten Rucksack als Kopfkissen unterschob. Im selben Moment ging das Licht aus, und sie saßen im Dunkeln.
»He, was soll das?«, rief Andernach und sprang auf.
»Das machen die auf allen Bahnhöfen so«, sagte |264| Raik, »um Strom zu sparen. Damit wollen die verhindern, dass irgendwelche Typen nachts auf ihren Bahnhöfen rumhängen. Dabei kann das ziemlich geil sein. Ich hab das kürzlich mit ein paar Leuten bei uns in Nürnberg gemacht, das hat irren Spaß gemacht. Als um zwei die Lichter ausgingen, sind wir wie Gespenster durch die Gänge gespukt.«
»Sie scheinen wenig Schlaf zu brauchen«, sagte Fitzek.
»Geht so«, sagte Raik. »Aber in der Nacht ist sowieso alles total schräg gelaufen. Es hat geregnet wie verrückt. Und auf der Fahrt nach Hause läuft mir doch glatt so ein Typ vors Auto, der war höchstens dreizehn oder vierzehn. Ich hatte keine Chance, ich schwör’s! Wie aus dem Nichts tauchte der plötzlich im Scheinwerferlicht auf. Ich hab natürlich voll gebremst, trotzdem hat es einen ziemlichen Schlag getan, als ich ihn erwischt habe.«
»Und was geschah dann?«, fragte Andernach, der es sich unterdessen ebenfalls auf seiner Bank bequem gemacht hatte.
»Na, ich nichts wie raus aus dem Wagen! Zum Glück war aber alles halb so wild. Der Junge hatte ziemlich was am Bein abgekriegt. Doch weil ich keine Scherereien mit der Polizei haben wollte, habe ich ihn hinten in den Wagen verfrachtet.«
»Aber der Junge muss doch starke Schmerzen gehabt haben?«, sagte Fitzek.
»Ja, der hat ziemlich gestöhnt. Aber dann hab ich eben diese Frau gesehen, die draußen im Regen stand, und hab angehalten und sie mitgenommen.«
|265| »Was für eine Frau?«, fragte Andernach.
»Na, so eine, die ihrem Mann weggelaufen ist.«
»Hat sie das gesagt?«, fragte Fitzek.
»So was
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