Leichtes Beben
Wilhelms Nummer gewählt.
»Mir ist da kürzlich was ziemlich Blödes passiert«, sagte Spencer und überlegte, wie er anfangen sollte.
»Was denn? Im Verlag?«, sagte Hagedorn, der sah, dass die Spieler wieder den Rasen betraten.
»Nein, nein«, sagte Spencer. »Hier in Zürich. Erst gestern.«
»Mit Esther? Im Rahmen der Scheidung?«, fragte Hagedorn und linste auf die Mattscheibe, wo das Spiel wieder lief.
»Nein, sie ist in London geblieben«, sagte Spencer. »Es war mit einer jungen Frau. Einer Professionellen, wie es scheint.« Er erschauderte bei dem Gedanken, Ronda könne womöglich tatsächlich eine Prostituierte sein.
»Oh!«, sagte Hagedorn. »Das klingt ja richtig interessant.«
»Du hast gut reden«, sagte Spencer und räusperte sich. »Ich finde das inzwischen alles andere als interessant.«
»Und jetzt hast du Esther gegenüber ein schlechtes Gewissen, weil ihr noch verheiratet seid?«, sagte Hagedorn, ohne seinen Blick von der Mattscheibe zu lösen.
»Ein schlechtes Gewissen? Wenn es das nur wäre«, sagte Spencer. »Nein, Wilhelm, ich habe Angst.«
»Angst? Aber wovor denn?«
»Davor, dass ich mich bei ihr angesteckt haben könnte!«, sagte Spencer mit Nachdruck und war nun nicht mehr zu bremsen. »Ich hatte vorher sogar noch |273| Kondome gekauft, im Eifer des Gefechts aber einfach nicht mehr daran gedacht, sie zu benutzen! Ich bin nicht mal auf die Idee gekommen, sie könne eine Professionelle sein, bei dem Eindruck, den sie machte.« Spencer machte eine kurze Pause. »Wir haben uns auf einem dieser Dampfschiffe kennengelernt, die auf dem Zürichsee herumfahren, und sind uns schnell nähergekommen. Und nachdem wir noch irgendwo was getrunken haben, sind wir in ihre Wohnung gegangen.«
Hagedorn blickte weiter mit dem Hörer am Ohr auf die Mattscheibe.
»Es war wirklich unglaublich mit ihr«, sagte Spencer und sah die Ereignisse vom Vortag nochmals vor sich ablaufen. »So etwas wie das mit dieser Frau hatte ich vorher noch nie erlebt. Nicht mal in der ersten Zeit mit Esther.«
»Wenn sie keine Kondome benutzt hat, war sie sicher keine Prostituierte«, sagte Hagedorn. »Außerdem hättest du sie ja einfach fragen können. Wenn du ihre Nummer hast, ruf sie an, oder geh hin und rede mit ihr! Wenn es wirklich so unglaublich war, wie du sagst, wird sie dich sicher nicht einfach so wieder wegschicken.«
»Was soll ich denn sagen, wenn ich vor ihr stehe? Bist du eine Professionelle
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und muss ich Angst haben, mich bei dir infiziert zu haben? So etwas in der Art vielleicht? Nein, Wilhelm, das kann ich nicht. Unter keinen Umständen.«
»Dann ängstige dich eben weiter, William«, sagte Hagedorn scherzhaft, der verfolgte, wie sein Team im |274| selben Moment den Anschlusstreffer erzielte. »Tor!«, rief er und riss den linken Arm in die Höhe. »Tor!!«
Spencer schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Ich weiß eigentlich gar nicht, was mich so sicher davon ausgehen lässt, dass sie eine Professionelle ist. Das muss ja wirklich nicht der Fall sein.« Denn eigentlich, und das begriff er jetzt, hatte ihn doch vor allem die Tatsache in Panik versetzt, dass er das Versprechen, das er und Esther einander vor langer Zeit gegeben hatten, nie »ohne« fremdzugehen, mit Ronda gebrochen hatte. So, als sei damit zwangsläufig eine Bestrafung verbunden. Und wieso gleich auch noch das Schlimmste?
»Danke, Wilhelm«, sagte Spencer und klappte seinen neben sich auf dem Bett liegenden Taschenkalender zu.
»Wofür?«
»Dafür, dass du mich dazu gebracht hast, endlich meinen Verstand zu benutzen, statt bloß auf mein Gefühl zu hören.«
»Geh hin und frag sie«, wiederholte Hagedorn, dem ein Blick auf die oben am Bildschirmrand eingeblendete Uhr sagte, dass seiner Mannschaft nur noch eine gute halbe Stunde blieb, um den Ausgleichstreffer zu erzielen. »Vielleicht wartet sie ja sogar darauf, dass du noch einmal zurückkommst«
»Das mache ich«, erwiderte Spencer entschlossen. »Und dir drücke ich die Daumen, dass dein Team noch den Ausgleich erzielt!«
Hagedorn hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, Spencer von seiner vor einiger Zeit festgestellten HIV-Infektion zu erzählen, die er sich bei einem seiner |275| jungen Freunde geholt hatte. Einem Zweiundzwanzigjährigen, unverschämt gut aussehenden und inzwischen verstorbenen Jungen, den er in einem einschlägigen Lokal kennengelernt hatte und der ihn, wenn er den schmalen Kopf mit den breiten Koteletten und den langen, mit Gel nach hinten frisierten Haaren
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