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Leichtes Beben

Leichtes Beben

Titel: Leichtes Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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Ähnliches jedenfalls.«
    »Und der Junge? Was war mit dem Jungen?«, fragte Andernach.
    »Was soll mit dem gewesen sein?«, sagte Raik. »Der hat irgendwann gepennt.«
    »Gepennt?«, sagte Fitzek. »Der wird wegen der Schmerzen ohnmächtig geworden sein. Du hättest den Jungen schleunigst ins Krankenhaus fahren müssen!« Er hatte ihn in seiner Empörung einfach gedutzt.
    »Das hab ich ja dann irgendwann auch«, sagte Raik.
    »Was heißt irgendwann?«, fragte Fitzek.
    »Weiß nicht. Irgendwann halt. Die Frau und ich sind eben noch was essen gegangen.«
    »Was?«, sagte Andernach.
    »Na ja, der hat doch sowieso gepennt. Und außerdem hat’s doch so geregnet.«
    »Also von dir möchte ich nicht angefahren werden, bei Gott nicht!«, sagte Andernach und lachte auf. »Lässt einfach den Jungen im Wagen liegen und gehst was essen, das glaube ich nicht!«
    »Und was haben die Leute im Krankenhaus gesagt?«, fragte Fitzek. »Die wollten doch sicher wissen, was passiert ist.«
    »Ich hab den doch nicht reingebracht«, sagte Raik, dem das Verhör langsam zu viel wurde.
    »Wie bitte?«, sagte Fitzek.
    »Ja, ich hab ihn aus dem Wagen gezogen und ihm |266| gesagt, er soll alleine reingehen. Und das hat er dann auch gemacht.«
    »Sie haben ihn, so schwerverletzt, wie er war, alleine gelassen?«, sagte Fitzek.
    »Na und«, sagte Raik grimmig. »Er war ja nicht tot.«
    »Und du?«, sagte Andernach harsch. »Was hast du gemacht?«
    »Ich?«, antwortete Raik im Ton größter Selbstverständlichkeit. »Ich bin zurück zu meinen Freunden am Bahnhof, hab ich doch schon gesagt.«
    »Aber interessiert dich denn nicht, was mit ihm ist? Ich meine, er könnte ja auch inzwischen tot sein.«
    »Der ist nicht tot«, antwortete Raik genervt. »Ganz sicher nicht! Dazu sah der trotz allem viel zu lebendig aus.«
    »Oh, Mann!«, sagte Andernach. Nur diese beiden Worte.
    Sie lagen noch lange wach. Außer Raik, der keine zehn Minuten später eingeschlafen war. Doch kurz bevor ihm endgültig die Augen zufielen, musste er noch einmal an den auf der nassen Straße liegenden Jungen denken und wie verwundert der ihn angesehen hatte. Das Geräusch des leerlaufenden Motors seines Wagens im Ohr, schlief er ein.

|267| Fünfundzwanzig
    »Ja? Hallo?«, sagte Hagedorn, drückte den Telefonhörer ans Ohr und ließ dabei die Mattscheibe nicht aus den Augen.
    »Wilhelm? Bist du das?«, sagte eine sonor klingende Männerstimme.
    »Ja, wer ist denn da?«, fragte Hagedorn und zog die Stirn kraus.
    »Spencer, dein Cousin«, sagte William Spencer.
    »Das ist aber eine Überraschung! Wo bist du? Etwa in Deutschland?«
    »Nein«, sagte Spencer, »ich bin in Zürich. Im Hotel.«
    »Was machst du denn da?«
    »Mich scheiden lassen«, sagte Spencer trocken.
    »Du und Esther, ihr lasst euch scheiden?« Hagedorn warf einen Blick auf den riesigen Plasmabildschirm, den er sich kürzlich, ohne lange zu überlegen, geleistet hatte. Der Schiedsrichter hatte soeben die erste Halbzeit abgepfiffen, und die Spieler verließen den Platz.
    »Ja«, sagte Spencer. »Traurig, aber wahr.«
    |268| »Hat sie etwa einen anderen?«
    »Nein, nein«, antwortete Spencer. »Unsere Zeit war einfach um. Nach über zwanzig Jahren hatten wir beide das Gefühl, dass es vorbei ist.«
    »Und wie geht es euch dabei?«, fragte Hagedorn pflichtschuldig.
    »Wie es zwei alten Rennpferden eben so geht, wenn sie auf ihr Gnadenbrot zusteuern!«, sagte Spencer und lachte. »Und du? Wie geht es dir, Wilhelm?«
    »Man hat mein Engagement am hiesigen Schauspielhaus nicht verlängert, und mein Team liegt im Moment null zu zwei hinten. Mit anderen Worten: Es geht mir blendend!«
    »Und was bedeutet das?«
    »Dass ich ab sofort auf der Straße sitze«, sagte Hagedorn. »Das ist offenbar nicht mehr zu ändern. Aber was mein Team angeht, so bin ich zuversichtlich, dass sie das Spiel noch drehen.«
    Dabei fiel sein Blick auf die Galerie der gerahmten Schwarzweißfotos an der Wand, auf denen er als Duncan in »Macbeth«, Astrow in Tschechows »Onkel Wanja« oder als Konsul Werle in Ibsens »Wildente« zu sehen war. Zuletzt hatte er in der Rolle des Koller aus Bernhards »Billigesser« auf der Bühne gestanden. Und die, die unten im Dunkeln saßen, hatten ihn geliebt. Trotzdem hatte die Leitung des Hauses ihn nicht mehr gewollt.
    »Das klingt schrecklich«, sagte Spencer, »aber wie ich höre, hast du deinen Humor deshalb noch nicht verloren!«
    »Nein, den müssen sie mir schon mit der Axt austreiben«, |269| sagte

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