Leichtes Beben
Hagedorn. »Außerdem halte ich es mit Erich Kästner, der mal gesagt hat: Es ist eine Kunst, erwachsen zu werden und dennoch das Kind in sich zu bewahren.«
»Du bist immer noch ganz der Alte«, sagte Spencer, »das ist gut.«
»Ich gebe mir Mühe«, antwortete Hagedorn. »Und wie ist es bei dir? Bist du noch bei diesem Verlag in London?«
Spencer bejahte. »Unter meinen Autoren sind zwei Booker-Preisträger, eine Nobelpreiskandidatin und drei Orange Prize-Gewinner, und solange die mit mir weiterarbeiten wollen, wird man mich nicht zum Teufel jagen.«
Hagedorn sah beim Blick auf den Bildschirm, dass noch immer Werbung lief. »Schön«, sagte er. »Und was macht deine Schwester? Alles klar mit David und den Kindern?«
»Ja, ja, Jane geht es gut. Sie haben sich gerade ein großes Haus in Birmingham gekauft. Wenn du mich fragst, ist das Unsinn. So klein sind die Kinder ja nicht mehr, wenn die studieren gehen, sitzen die beiden alleine in dem riesigen Haus.«
»Aha«, sagte Hagdorn. Im selben Moment donnerte in geringer Tiefe ein Jet über das Viertel. Er spürte die Vibration, die die Turbinen erzeugten, als leichtes Zittern an den Fußsohlen. Genau wie an dem Tag, als die Erde gebebt hatte. »Und sonst?«
»Sonst? Tja, wie soll ich sagen.« Am liebsten hätte Spencer auf der Stelle davon angefangen. Denn seit die Sache passiert war, fühlte er sich schrecklich. Immer |270| wieder griff er unter den Bund seiner Unterhose und umfasste sein erschlafftes Glied; dabei stellte er sich Rondas irritierten Gesichtsausdruck vor, und es rollte heiß durch seinen Magen.
Auf dem Bett liegend, hatte er im Schein der Nachttischlampe in seinem Kalender geblättert und war die Namen und Nummern derer durchgegangen, die für einen Anruf in Frage kamen. Normalerweise hätte er ohne zu überlegen Frank Jones angerufen, seinen ältesten und besten Freund. Doch Frank, der seit mehr als dreißig Jahren als Sportreporter beim Guardian arbeitete, hatte sich kürzlich einer komplizierten Bandscheibenoperation unterziehen müssen und im Moment weiß Gott andere Sorgen, als sich Spencers Lamento anzuhören.
Auch hätte er Glen Beardsley anrufen können, den Cheflektor von Picador, mit dem er sich seit mehr als zehn Jahren einmal die Woche zum Squash traf. Glen war ein guter Zuhörer und ein glänzender Ratgeber. Doch Glen weilte auf der Hochzeit seines Sohnes in Marokko. Spencer hatte es ein paar Mal versucht, doch offenbar hatte Glen, um nicht gestört zu werden, sein Handy ausgeschaltet.
Natürlich konnte er Harry Hunt, seinen jüngeren Sachbuchkollegen, anrufen, mit dem er häufiger nach Feierabend unweit des Verlages ein Bier trank. Oder sie fuhren, da sie beide in Ealing im Westen Londons wohnten, hinüber nach Brentford, wo Harrys jüngerer Bruder John ein Bistro betrieb, um dort französisch zu essen. Doch weil Harry im selben Verlag wie Spencer arbeitete, fand er es zu riskant, ihn in seine |271| Sorgen einzuweihen. Blieben nur noch sein alter Schulfreund Ray und seine Schwester Jane.
Beim Überfliegen der Namen in seinem Kalender war Spencer plötzlich bewusst geworden, wie begrenzt der Kreis derer war, denen er sich in einem delikaten Fall wie diesem anvertrauen konnte. So schreckte er auch davor zurück, Ray anzurufen. Ray war seit über dreißig Jahren mit Rachel verheiratet und hätte wohl kaum Verständnis für sein Problem gehabt. Und Jane damit zu konfrontieren, dass er mit einer Frau, die er gerade mal ein paar Stunden kannte, ins Bett gegangen war, war genauso unmöglich.
Spencer hatte hilflos die Seiten seines Kalenders vor- und zurückgeblättert. Und da war ihm plötzlich der Name seines Cousins Wilhelm ins Auge gefallen. Wilhelm galt innerhalb der Familie von jeher als unkonventioneller Einzelgänger, er war am Theater, und Spencer dachte, dass diese Leute sich sicher mit ungeschütztem Geschlechtsverkehr auskannten und keine moralischen Einwände hätten.
Spencer, der Wilhelm bei einem seiner Besuche in Deutschland auf der Bühne gesehen hatte, war ziemlich angetan gewesen von der Präsenz seines Cousins. Und als sie nach der Vorstellung noch länger zusammensaßen, waren sie sich überraschend nahgekommen. Anschließend hatten sie noch ein paar Mal telefoniert, doch irgendwann war der Kontakt wieder spärlicher geworden.
Spencer hatte keine Ahnung, wann er und Wilhelm das letzte Mal miteinander telefoniert hatten. Das musste mehr als drei Jahre zurückliegen. Kurz |272| entschlossen hatte Spencer also
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