Leiden sollst du
Aber alleine durch die Möglichkeit sah er einen Hoffnungsschimmer. So weit war es also schon gekommen. Normalerweise glaubte er nur an Fakten. Marie war diejenige, die sich an Hoffnungen klammerte, nicht er.
Zogen sie überhaupt noch an einem Strang?
Dadurch, dass er sich auf die Ermittlung konzentrierte, wurden seine Gedanken klarer und er erdete sich langsam wieder. Erst jetzt wurde ihm bewusst, was für einen großen Liebesbeweis sie ihm in der vergangenen Nacht angeboten hatte! Sie hätte sich für ihn und nicht für ihre Eltern entschieden, hätte er sie vor die Wahl gestellt. Was er niemals getan hätte.
Statt gerührt einzulenken, hatte er sich abweisend verhalten. Verdammter Idiot! Er hatte nicht behauptet, dass alles aus und vorbei war und er die Ehe mit ihr nicht mehr fortführen wollte, aber mit seinem introvertierten Verhalten hatte er sie dennoch von sich weggestoßen.
Das war ein Fehler gewesen , erkannte Daniel.
Er hatte sich einfach elend gefühlt. Nun wurde ihm bewusst, dass es ihr ähnlich gegangen sein musste. Sie hatte sich für ihre Eltern geschämt, war wütend auf sie gewesen, und auf ihrem Gesicht hatte er abgelesen, dass sie sich verletzt fühlte, als hätten ihr Vater und ihre Mutter sich über sie und nicht über Daniel abfällig geäußert.
Er hatte sich falsch verhalten, denn er hätte Marie im Bett in seine Arme ziehen und eng umschlungen mit ihr einschlafen sollen. Stattdessen hatte er sich abgekapselt, wie Ben es in letzter Zeit tat und Daniel damit zur Weißglut brachte, weil er nicht an ihn herankam.
Bevor Marie ebenso über ihn dachte, musste er sein Fehlverhalten wiedergutmachen. Er rollte zu Leanders Schreibtisch, stieß den Bürostuhl weg und zog sich an der Tischplatte heran.
„Was machst du?“ Die Skepsis in Tomasz’ Stimme war nicht zu überhören.
„Ich muss etwas nachgucken.“ Am Abend wollte er Marie eine Wiedergutmachung präsentieren. Keinen Blumenstrauß! Den konnte ihr jeder schenken. Daniel plante, ihr etwas zu überreichen, das nur er ihr geben konnte – weitere Ermittlungsergebnisse.
„Im Polizeicomputer?“ Missbilligend kniff Tom seine Augen zusammen. „Nicht gut.“
„Wirst du mich davon abhalten?“, fragte Daniel und sah seinen Freund herausfordernd an.
Tom hob seine Arme und zeigte seine Handflächen. „Ich fasse doch keinen Rollstuhlfahrer grob an. Nachher verklagst du mich noch wegen tätlichen Angriffs auf einen Gehbehinderten.“
Lächelnd nickte Daniel. „Danke.“
Im Zweifingersystem hackte er auf die Tastatur ein und spürte das vertraute Kribbeln im Nacken, wenn er sich auf Spurensuche begab. Er rief die Kriminalakte von Michael Schardt auf und schaute in seinen Personaldaten nach der Information, die er suchte.
Seine Ehefrau hieß mit Mädchennamen Janet Evans. Die britische Dolmetscherin war 1998 nach Deutschland gekommen, um in Köln als freiberufliche Übersetzerin zu arbeiten und ihre Deutschkenntnisse zu vertiefen. Die Stadt bat sie eines Tages um Hilfe bei einem Schotten ohne Papiere, der auf der Straße lebte, betrunken Passanten anpöbelte und Ärger machte. Er sprach kein Deutsch, dafür die Beamten Englisch, aber bei seinem schottischen Dialekt mussten sie kapitulieren. Also half Janet Evans aus. Dabei lernte sie den Streetworker kennen. Sie heirateten nach einem halben Jahr. Bald darauf wurde sie schwanger. Sarah wuchs aber nur achtundzwanzig Monate mit ihrem Vater auf, dann trennten sich ihre Eltern. Von seinem Besuchsrecht machte Michael Schardt immer seltener Gebrauch. 2006 kehrte Janet mit ihrer Tochter nach England zurück und der Kontakt zu Mike brach laut seiner Exfrau ganz ab.
Grübelnd zupfte Daniel an seinem Bart. Er schloss das Dokument und ließ sich die Akte von Günther Lenz anzeigen.
Seitdem er wegen Kindesmissbrauchs verurteilt worden war, verweigerte seine Ehefrau Margarete ihm den Kontakt zu seiner Tochter und seinem Sohn. Nach der Entlassung aus der Haftanstalt lebte er einige Monate in einer Sozialwohnung, aber seine Nachbarn bespuckten ihn und warfen Steine durch seine Fenster. Eines Tages begoss ihn jemand mit Benzin und ein anderer versuchte, ihn anzuzünden. In letzter Sekunde konnte sich Lenz von seinen Angreifern losreißen und weglaufen. Eine Anzeige hatte es nicht gegeben. Er kehrte nie wieder in sein Apartment zurück, lebte seitdem in der Gosse und wurde zu „Schnapper“. Seine Sprösslinge waren heute fünf und sechs Jahre alt.
Nachdenklich schloss Daniel die Datei. Es war zwar
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