Leiden sollst du
den jungen Kranich niemals zur Aufgabe würde überreden können. Nur, wie sollte er ohne funktionierende Beine einen Kampf gegen ihn gewinnen?
Während sich Marie am Riemen riss, an die Zimmerdecke schaute – vielleicht weil ihr das half, ihre Luftnot zu ignorieren, oder sie in der Haltung besser atmen konnte – und ihre Finger sich erneut vorsichtig ihren Weg an ihrem Körper hinabtasteten, beging Daniel nicht den Fehler, Markus’ Aufmerksamkeit auf ihr Tun zu lenken, indem er auf ihre Tasche starrte.
Stattdessen sah er Kranich direkt an, auch weil er ahnte, wie sehr dieser es verabscheute, wenn jemand ihm die Stirn bot. Daniel köderte ihn, indem er ihm zeigte, dass er sich auf einer Stufe mit ihm sah. Das war gefährlich, keine Frage, aber er musste diese Gratwanderung wagen. „Wie sind Sie auf Günther Lenz gestoßen?“
„Wen?“
„Schnapper, der Obdachlose?“
„Es war so einfach. Jedes Kind hätte ihn ausfindig machen können.“ Kranichs breites Grinsen wurde zunehmend bitterer. „Nur die Bullenschweine hatten keinen Bock und machten ihren Job nicht. Wie immer. Was sollte man von denen auch erwarten?“
Es war nicht das erste Mal, dass Daniel solche Beschuldigungen an den Kopf geworfen bekam, daher prallten sie an ihm ab. Markus hasste die Polizei, weil sie ihn nicht vor seinem Vater beschützt hatte und vor Übergriffen aus dem Ghetto vermutlich auch nicht. „Aber Sie waren cleverer.“
„Ein Kinderspiel, hätte Julia gesagt.“ Da sich Marie entspannte, vermutete Daniel, dass Markus nicht mehr genau auf sie achtete, während er mit seinen Bluttaten prahlte, und seinen Arm lockerer ließ. Er fuhr fort, als freute er sich darüber, endlich jemandem berichten zu können, wie gewitzt er gewesen war. „Angeblich ergaben die Zeugenbefragungen in der Volksküche rein gar nichts. Aber als ich die Arschficker und Fotzen in die Mangel nahm, plauderten sie wie Wasserfälle. Man muss dieses Pack nur richtig anfassen.“
Innerlich brodelte es in Daniel. Er wäre Kranich am liebsten an die Gurgel gegangen, doch er hielt sich im Zaum und lobte ihn, nur damit er mit seinem Geständnis fortfuhr: „Das haben Sie drauf.“
„Und wie ich das draufhabe!“ Zum Beweis hob er mit seinem Ellbogen Maries Kinn an. Diese keuchte zwar erschrocken, hielt sich jedoch tapfer und nahm ihre Hand nicht aus ihrer Tasche. „Zuerst behauptete der Penner, von nichts zu wissen. Zwei Zähne im Maul weniger, einige Schläge in die Nieren und Tritte in die Eier ging er zu Boden. Auf Knien und mit blutiger Fresse hielt er mir Julias Smartphone hin, als wäre ich der verfickte Messias.“
Ganz langsam bewegte sich Daniel ein Stück vorwärts. „Das hat Ihnen gefallen, oder?“
„Nein, hat es nicht. Es machte mich stinkwütend“, schrie Kranich so laut, dass Daniel hoffte, sein Geschrei wäre auf dem Hof zu hören, und jemand, der zum Beispiel den Müll wegbrachte, würde seine Kollegen rufen, doch die Minuten verstrichen und nichts geschah. „Er hatte Julias Telefon. Das Handy meiner Schwester, die zu dem Zeitpunkt spurlos verschwunden war. Wie hätte mir das gefallen können? Bist du bescheuert, oder was?“
Vor Ärger über seine unbedachte Bemerkung bohrte Daniel seine Fingernägel in die Handballen. Er wusste, er durfte nicht zu weit gehen, hielt seinen Mund und blieb mit seinem Rolli stehen. Wenn er Kranich zu zornig machte, würde Marie als Erste dafür büßen. Auch wenn Daniel ihm körperlich unterlegen war, würde er nicht zögern, ihn anzugreifen, sobald sich ihm die Möglichkeit bot.
Markus’ Körper bebte. „Auf dem letzten Foto, das Julia geschossen hatte, war der Asoziale zu sehen, wie er meine Schwester aus dem Gebüsch heraus begaffte. Er muss beobachtet haben, wie sie misshandelt und getötet worden war, aber er hat einfach nur zugeschaut, hat sich ihr Smartphone gekrallt und ist weggelaufen, ohne ihr zu helfen oder wenigstens Hilfe zu holen. Er sagte, er würde sich immer aus allem raushalten, er hätte schon wegen seines Faibles für kleine Mädchen alles verloren und wollte nicht auch noch im Fegefeuer landen, wenn er starb.“ Sein schäbiges Lachen hallte von den Wänden wider. „Hab ihn schon zu Lebzeiten durch die Hölle geschickt, sodass er es mit dem Sterben plötzlich eilig hatte. Menschen ändern ihre Meinungen so schnell, es ist zum Kotzen!“
„Deshalb haben Sie ihm also den Mund zugenäht und die Füße abgesägt, weil er floh und das Verbrechen, dessen heimlicher Zeuge er war,
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