Leiden sollst du
aber dennoch: „Geht es Claudi gut?“
„Bist du bescheuert, Mann? Sie hat schwere Knochenbrüche, liegt im künstlichen Koma und du kommst mir mit so einer Scheiße an. Ich dachte, wir hängen zusammen ab, dröhnen uns zu, wie echte Kumpel das eben so machen. Aber du kannst ja die Vergangenheit nicht loslassen. Schau nach vorne, Alter! Wir machen bald Abi. Dann beginnt erst das große Abenteuer. Die weite Welt wartet auf uns.“
Ben brauchte ein wenig, um Denis’ Gedankensprüngen zu folgen. „Wie könnte ich?“
„Ich kann das sehr gut.“ Sein rechtes Lid zuckte und strafte ihn Lügen. Denis bückte sich, hob eine Dose auf und öffnete sie. Sprudelnd ergoss sich das Kölsch über seine Hand. Er trank das Bier in einem Zug leer, als müsste er die Erinnerung wegspülen.
So tun, als wäre nichts geschehen, funktionierte nicht, Ben hatte es selbst versucht. „Glaubst du, er war es?“
Eine Lok fuhr in den Rangierbahnhof ein. „Sprich nicht über ihn.“
„Er hat zwei Typen umgebracht.“
Denis sah tollwütig aus. Wegen dem Bierschaum in seinen Mundwinkeln. Und dem aggressiven Blick. „Ich warne dich.“
„Glaubst du, er kann uns hören?“ Mit einem sarkastischen Achselzucken schaute sich Benjamin um.
Hatte Denis eben noch aufgebracht herumgeschrien, so flüsterte er nun: „Er ist überall.“
„So ein Quatsch!“
„Doch.“ Sogar Denis’ Atem zitterte, als er Luft holte. „Schließlich weiß er alles.“
Der Zug kam immer näher und bremste lang ab. Ben sprach lauter, um das Quietschen der Räder zu übertönen. „Wir könnten die Nächsten sein. Erst meine Ma ...“
„Sag es nicht.“ Erneut kratzte sich Denis an seiner Kehle und diesmal hörte er nicht auf, bis es blutete. Überrascht betrachtete er das Blut unter seinen Fingernägeln.
„... und ...“
Denis’ Miene verzerrte sich zu einer Fratze. Er schaute Ben an und zerquetschte die leere Dose in seiner Hand. „Wehe!“
Ben brachte es nicht übers Herz, seine Vermutung auszusprechen und ihren Namen seiner Aufzählung hinzuzufügen, aber sein Freund wusste ohnehin, wen er meinte, denn Denis keuchte entsetzt. Der Zug hielt am anderen Ende des Rangierbahnhofs und es kehrte wieder Ruhe ein. Normalerweise genoss Ben den Moment, diesmal jedoch wirkte die Stille fast schmerzhaft und seine Worte unangenehm laut: „... dann wir.“
Plötzlich änderte sich Denis’ Mimik. Die Furcht, die sich auf seinem Gesicht gezeigt hatte, wich einem irren Grinsen. „Und Julia.“ Sogleich trübte sich sein Blick. Denis schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein. Sein Kopf wiegte hin und her, als drohte er von den Schultern zu kippen, und Denis stammelte: „Er hat Julia gekillt, er hat sie auf dem Gewissen, er ist schuld.“
Die Lok fuhr wieder los, kam auf die Jungs zu. Das Quietschen begann erneut und Ben fragte sich, warum die Lokführer diese verdammten Räder nie ölten. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Er schüttelte Denis, denn er konnte seinen Stimmungsschwankungen kaum noch folgen. „Du bist doch total bekifft, Mann!“
Denis’ Lider flackerten, er sah verzweifelt aus. Seine Augen glänzten wieder feucht. Plötzlich kräuselte sich die Haut auf seiner Nase vor Wut. „Mich kriegt der Arsch nicht. Und die Bullen auch nicht.“ Er ließ das zerbeulte Blech fallen und rannte los, zwischen den geparkten Waggons hindurch und verschwand.
Die Lok war jetzt ganz nah. Sie nahm an Fahrt auf. Die Räder hatten mit dem Kreischen aufgehört, aber ein bedrohliches Surren und Rauschen lag in der Luft, als näherte sich etwas Gigantisches, das alles platt walzen würde, was sich ihr in den Weg stellte.
„Neeein!“, schrie Benjamin und sprintete los.
Die Angst um seinen Freund ließ ihn schneller laufen. Er war froh, nicht gesoffen und geraucht zu haben. Denis dagegen schlug Haken wie ein Kaninchen, dessen Fluchtinstinkt eingesetzt hatte, gehetzt und desorientiert, sodass er es Benjamin schwer machte, an ihm dranzubleiben. Sie hatten sich im letzten Jahr nicht viel zu sagen gehabt, aber sie waren immer noch Freunde, schließlich hatten sie viel zusammen durchgemacht. Mehr als andere Cliquen. Viel, viel mehr!
Denis fand endlich, wohin er wollte – zu den Gleisen, auf denen sich der Zug näherte. Torkelnd stellte er sich mitten darauf. Aus unerfindlichen Gründen fiel er wie ein Stein zu Boden. Aus einiger Entfernung sah Ben, wie er sich aufsetzte. Der Kopfhörer lag eine Armlänge entfernt neben ihm, war noch verbunden mit dem Kabel, das
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