Leiden sollst du
unter dem Hoodie verschwand, und wirkte wie ein Anker. Grinsend schaute Denis den wild gestikulierenden Fahrer an. Dieser zog die Bremse, aber Ben ahnte, dass die Lok bereits zu viel Schwung hatte, um rechtzeitig zum Stehen zu kommen.
Denis blieb einfach sitzen und blickte sich gehetzt um, als wäre er von Dämonen umringt, die nur er sehen konnte. Mit tränennassen Wangen breitete er seine Arme aus. Um zu zeigen, dass er sich nicht fürchtete? Um den Tod willkommen zu heißen?
„Wichser“, rief Benjamin und lief schneller. „Lass mich mit dieser ganzen Scheiße nicht alleine.“
Plötzlich sah Denis ihn an. Er schien nun, da er sich entschieden hatte, völlig ruhig zu sein. Sein Brustkorb hob und senkte sich nicht mehr. Der irre Blick war weg, aber seine Augen glänzten glasig und seine Lider waren halb geschlossen. Unnatürlich gelassen klopfte er neben sich, während sein Oberkörper hin und her wiegte wie ein Blatt, das der Sturm jeden Moment vom Baum reißen würde. „Dann komm doch und setz dich dazu.“
Vor Entsetzen über seine Worte stolperte Benjamin. Er ruderte mit den Armen, um sein Gleichgewicht zu finden. In diesem Schreckmoment kam er sich wie der kleine Vogel am Himmel vor, auf den Denis mit einer imaginären Waffe gezielt hatte und der ins Trudeln geraten war, weil ein anderer größerer Vogel ihn plötzlich attackiert hatte.
23
Prickelnde Vorfreude erwachte in Daniel, als er seinen Chopper in das Bootshausrestaurant Die Hummergabel fuhr. Heute Abend würde er sein Geheimnis lüften und seinen rechten Rollstuhlfahrerhandschuh das erste Mal im Beisein von Marie ausziehen. Er freute sich schon den ganzen Tag auf ihr Gesicht.
Wie lange war es her, dass er sich so gut gefühlt hatte? Es musste definitiv vor März gewesen sein, denn danach war seine Welt zusammengebrochen. Nicht ganz, korrigierte er sich. Er hatte jegliches Gefühl in seinem Unterleib verloren und damit auch seinen Job bei der Mordkommission, aber eine Konstante war in seinem Leben geblieben – Marie.
Er küsste ihren Handrücken, ließ sie los und beobachtete, wie der Kellner ihr den Mantel abnahm und aufhängte. Noch immer verspürte er einen Stich in seinem Brustkorb, weil er zu ihr aufschauen musste wie ein Zwerg, dabei war es vorher andersherum gewesen. Doch ganz langsam fand er sich damit ab. Es stürzte ihn nicht mehr jede Kleinigkeit in eine Krise. Sein männlicher Stolz jedoch hatte immer noch ein wenig daran zu knabbern. Aber er musste an sich arbeiten, wenn er Marie weiterhin an seiner Seite haben wollte. Sie hatte ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie mit einem Gehbehinderten zusammenleben konnte, nicht aber mit einem verbitterten Mann, der alles schwarzmalte. Deswegen hatte er sie an diesem Abend in ein schwimmendes Restaurant eingeladen. Es hatte einen festen Ankerplatz auf der Schäl Sick , wie die Kölner das rechtsrheinische Ufer nannten.
Der Kellner führte sie zu ihrem reservierten Tisch und nahm für den Rollstuhl einen Stuhl weg. Irritiert starrte Daniel die vier Gedecke. „Wir sind aber nur zu zweit.“
Überrascht hoben sich die Augenbrauen des Obers. „Das tut mir leid. Ich schaue rasch nach, ob wir die Reservierung falsch notiert oder ich Sie an den falschen Tisch gebracht habe.“ Er lächelte entschuldigend und ging.
„Kann ja mal passieren.“ Marie zuckte mit den Achseln und sah sich um. „Wunderschön.“
Das Restaurant fasste nur zwanzig Tische für zwei oder vier Personen. Daniel strich über die gestreifte barocke Polsterung eines Stuhls. Der Stoff war bestimmt nicht billig gewesen, ebenso wenig wie das Fischgrätenparkett. Beiläufig prüfte Daniel, ob sein Rolli Kratzer auf dem Boden hinterlassen hatte, und atmete erleichtert aus. Der goldene Kerzenständer wirkte nicht einmal kitschig, sondern passte in das edle Ambiente. Unauffällig betastete Daniel die Blumengestecke, sie waren echt. Hoffentlich würde er das richtige Besteck für den richtigen Gang benutzen. Auch die zahlreichen Gläser irritierten ihn. Er fühlte sich bei solch einem Schickimickikram eigentlich unwohl, aber er wusste, dass Marie die exklusive Atmosphäre genoss, und nur das zählte.
Mit einem unguten Gefühl im Magen rieb Daniel über seinen Ringfinger, während er blinzelnd die zwei überflüssigen Gedecke anstarrte, als wären es Eiterbeulen, die den Appetit verdarben. Die Haut unter dem Lederhandschuh kribbelte. Ungern dachte er an die Tortur zurück, die er durchgestanden hatte. Er
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