Leidenschaft des Augenblicks
erinnerte sich mehr daran, wer tatsächlich der Kopf des Unternehmens gewesen war.
Als Jessie die Tür öffnete und das Büro betrat, stand Glenna
Ringstead am Fenster und blickte auf die Straße hinunter. Sie trug ein makelloses dunkelgraues Kostüm, eine hellblaue Bluse und relativ flache Pumps. Als sie sich umdrehte, bemerkte Jessie, daß ihre Augen hinter der schwarzumrandeten Brille noch ernster dreinblickten als sonst.
»Da bist du ja endlich, Jessie. Dein Freund von unten hat mich reingelassen.« Glenna sah auf ihre Uhr. »Ich habe nicht viel Zeit.«
»Setz dich doch, Tante Glenna.« Jessie ließ sich in den Stuhl hinter dem Schreibtisch fallen und entschied, daß Angriff die beste Verteidigung sei. »Ich nehme an, du bist gekommen, um mir zur Verlobung zu gratulieren.«
Glenna bewegte sich keinen Schritt vom Fenster weg. »Das ist überhaupt kein Anlaß für dumme Witze, Jessie«, sagte sie sanft.
»Tut mir leid.«
»Selbstverständlich mache ich mir Sorgen um deine Zukunft. Und natürlich hat der Rest der Familie ganz wesentlichen Druck auf dich ausgeübt, was diese Heirat angeht.«
Jessie lächelte und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Dann nahm sie einen Stift in die Hand und begann, damit leise auf den Tisch zu klopfen. »Ist schon in Ordnung, Tante Glenna. Ich gebe dir mein Wort, daß ich diese Entscheidung ganz alleine getroffen habe. Ich weiß, was ich tue, und ich tue es nicht, um der Familie einen Gefallen zu erweisen. Aber ich finde es nett, daß du dir Gedanken darüber machst.«
Glenna nickte langsam. »Genau das hatte ich vermutet. Du tust es also für dich selbst, nicht wahr?«
»Ja.«
»Ich hatte schon so etwas befürchtet.«
Jessie sah sie überrascht an. »Befürchtet?«
»Es ist wirklich komisch. Aber ich hätte nie geglaubt, daß die Rolle als Vincents Erbin bei dir so zur Manie werden würde. Ich hatte immer angenommen, daß man sie dir eher aufgedrängt hat und daß du sie im Grunde gar nicht wolltest. Aufgrund deiner frühen Kindheitserlebnisse hatte ich vermutet, daß du diese Rolle zwar akzeptierst, aber nie wirklich angestrebt hast. Wie hätte ich auf den Gedanken kommen sollen, daß dir Geld und Macht soviel bedeuten.«
»Geld und Macht? Wovon redest du da?«
»Ich habe dich immer in der Rolle des Opfers gesehen. Du hast mir tatsächlich leid getan, weißt du. Ich wollte dir sogar helfen, dich aus den Fesseln zu befreien. Aber jetzt ist mir endlich klargeworden, daß du dich wissentlich und willentlich in diese Position begeben hast.«
Jessie fuhr schockiert hoch. »Tante Glenna, was soll das alles? Ich heirate Hatch nicht, um die Firma unter meine Kontrolle zu bekommen. Benedict Fasteners zu leiten, wäre das letzte, was ich will.«
»Bist du dir da wirklich sicher, Jessie? Bist du wirklich einmal in dich gegangen und hast dich gefragt, warum du Sam Hatchard tatsächlich heiraten willst? Wäre es nicht möglich, daß du dich an die zentrale Rolle gewöhnt hast, die du in dem Familienverband spielst? Daß deine Beziehung zu Vincent zu einem Machtinstrument geworden ist?«
Jessie bekam große Augen. »Du bist verrückt, Tante Glenna.« Sie merkte, was sie da gerade gesagt hatte, und wurde rot. »Entschuldige, ich habe das natürlich nicht wörtlich gemeint.«
»Jessie, geh einmal in dich und überlege, ob der wahre Grund für deine Verlobung mit Hatch nicht doch darin liegt, daß du glaubst, durch ihn Benedict Fasteners kontrollieren zu können. Auf diese Art und Weise meinst du, mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Du bekommst die Macht, die damit verbunden ist, daß du Vincents Alleinerbin bist, und zugleich trägst du keinerlei Verantwortung für die Leitung des Unternehmens, denn dafür ist ja Hatch zuständig.«
»Um Himmels willen.« Jessie warf den Stift zur Seite. »Selbst wenn ich heiraten würde, um meine Position als Dads Erbin zu festigen, wäre ich doch nie so dumm zu glauben, daß ich durch Hatch die Kontrolle über die Firma bekäme. Kein Mensch kann Hatch derart beeinflussen.«
»Das ist vermutlich wahr. Aber es könnte sein, daß du dich in dem Glauben wiegst, du hättest ihn in der Hand. Möglicherweise denkst du, du könntest ihn genauso manipulieren wie deinen Vater.«
»Ich manipuliere Dad nicht.«
»Aber selbstverständlich tust du das! Du bist die einzige, die das schafft, und das weiß die ganze Familie. Deshalb bist du auch zur Vermittlerin für alle geworden.« Glenna klang nach wie vor kühl und distanziert. Die
Weitere Kostenlose Bücher