Leidenschaft des Augenblicks
aussehende, aber attraktive Frau Anfang Fünfzig. Sie trug ihr silberblondes Haar hochgesteckt, was ihr das Aussehen einer Amazonenkönigin verlieh. Ihre große schwarze Brille, ohne die sie seit Jahren kein Mensch gesehen hatte, war so etwas wie ihr Markenzeichen geworden und paßte ausgezeichnet zu den strengen grauen oder beigen Kostümen, die die Psychologin bevorzugte. Alles zusammen verlieh ihr einen autoritären Anstrich.
»Hallo, Jessie.« Glenna lächelte sie auf ihre kühle, professionelle Art an. »Komm doch rein und nimm Platz. Ich nehme an, du bist nicht hier, um meinen Rat als Psychologin einzuholen. Seit ich dir gesagt habe, du solltest dich nicht so darauf versteifen, eine engere Beziehung zu deinem Vater zu bekommen, hast du mich nicht mehr konsultiert.«
»Laß mich überlegen. Das muß um die Zeit gewesen sein, als ich ungefähr fünfzehn war. Kurz nach Elizabeths Geburt.« Jessie grinste fröhlich. »Nimm's nicht persönlich, Tante Glenna. Seit dieser Zeit lasse ich mir von niemandem mehr etwas sagen.«
»Das ist der ganzen Familie hinlänglich bekannt.«
»Ich weiß zu schätzen, daß du dir heute extra Zeit für mich nimmst, und verspreche dir, daß ich dich nicht lange aufhalten werde.« Jessie folgte ihrer Tante in das Sprechzimmer und ließ sich auf einen Stuhl neben einem Tischchen sinken, auf dem eine große Schachtel mit Papiertüchern stand. Sie streckte ihre langen Beine aus und steckte die Hände in die vorderen Taschen ihrer verblichenen Jeans.
»Mach dir wegen der Zeit keine Gedanken, Jessie.«
»Danke.« Jessie blickte auf die Kleenex-Schachtel neben sich.
»Ich nehme an, deine Patienten verbrauchen eine ganze Menge davon?«
»Eine Therapie kann viele verdrängte Gefühle ins Bewußtsein zurückholen«, bemerkte Glenna sachlich.
»Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Mrs. Valentine hat auch eine große Schachtel davon rumstehen. Ist das nicht komisch, daß die Kunden unserer beiden Berufszweige so zum Tränenvergießen neigen?« Wenigstens weinten die meisten von Mrs. Valentines Klienten nicht mehr, wenn sie ihr Büro verließen, fügte Jessie in Gedanken hinzu.
»Weil du gerade deine neue Arbeitsstelle ansprichst... Wie läuft es denn so bei Valentine Consultations?« Glenna nahm hinter ihrem Schreibtisch Platz und faltete die Hände, als bereite sie sich darauf vor, eine besonders ausgeprägte Neurose zu diskutieren.
»Wunderbar. Einfach phantastisch. Ich kann mir vorstellen, wie jemand wie du über Mrs. Valentine denkt, aber ich kann dir versichern, daß wir dir keine Patienten wegnehmen.«
»Darüber mache ich mir bestimmt keine Sorgen. Menschen, die Wahrsagerinnen konsultieren, sind ganz offensichtlich noch nicht soweit, sich ihren wahren psychischen Problemen zu stellen. Ich kann warten.«
»Weil sie früher oder später doch bei dir auftauchen?«
Glenna nickte. »Wenn sie ernsthaft daran interessiert sind, ihre Probleme in den Griff zu bekommen - ja. Wie war dein Date gestern abend?«
Jessie verzog das Gesicht. »Nicht du auch noch, Tante Glenna.«
»So schlimm? Ich nehme an, Lilian und Connie haben dich bereits ausgequetscht?«
»Ja. Ich enttäusche euch ja ungern, aber es geht nun,mal nicht anders.«
Glenna sah sie durchdringend an. »Dann hast du also wirklich kein Interesse an Hatch?«
»O doch. Ich bin durchaus interessiert. Aber ich konnte den Mann niemals heiraten, Tante Glenna. Er ist Dad viel zu ähnlich. Es kostet verdammt viel Kraft, mit dem Kopf gegen eine Betonwand zu rennen. Ich habe Jahre gebraucht, um Dad ein klein wenig weich zu bekommen. Und ich habe definitiv nicht vor, dasselbe noch mal mit einem anderen Workaholic durchzumachen.«
»So also siehst du Sam Hatchard?« fragte Glenna ernst. »Als einen Mann, der dich zu sehr an deinen Vater erinnert?«
»Wenn es um seine Einstellung zur Arbeit geht - ja. Aber ich bin nicht deswegen hergekommen.«
»Worüber wolltest du denn dann mit mir sprechen?«
»Ich muß etwas über die Psychologie von Sekten in Erfahrung bringen.«
»Sekten? Religiöse Sekten?«
»Jede Art von Sekten.« Jessie rief sich den langen, weitschweifigen Brief in Erinnerung, den Susan Attwood ihrer Mutter geschrieben hatte. Er hatte nur wenig handfeste Informationen enthalten; hauptsächlich war es eine Menge Geschwafel darüber gewesen, wie man die Welt retten könne. »Die Sekte, für die ich mich im speziellen interessiere, scheint ihren Anhängern einzureden, daß eine Umweltkatastrophe unmittelbar bevorsteht und
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