Leidenschaft, Die Dich Verfuehrt
Schreie und Hufgetrappel zu hören. Da Shay nicht genug Freiwillige in der Stadt gefunden hatte, die bereit waren, ihm zu helfen, war die Hinterseite unbewacht geblieben. Vorsichtig betrat Shay das Gebäude, das jeden Moment ganz in sich zusammenbrechen konnte. Er hatte eigentlich erwartet, daß seine Gefangenen inzwischen geflohen wären, aber zu seiner Überraschung fand er Kyle Senior in der Zelle, deren Gitterstäbe bei der Explosion zerborsten waren. Der alte Mann hielt Billy in den Armen. Die beiden waren mit Staub und Mörtel bedeckt und wirkten wie Statuen.
»Er ist tot«, sagte Kyle tonlos.
Shay warf einen Blick auf den Jungen und wusste , daß der Rancher recht hatte. Billy war bei der Explosion, mit der man ihn und seinen Vater hatte befreien wollen, von einem Balken getroffen worden. »Es tut mir leid, Mr. Kyle«, versicherte Shay, und er meinte es ehrlich.
Kyle schwieg, während Shay vorsichtig verbogene Eisenstäbe und Schutt zur Seite räumte. Dann murmelte der Alte: »Er wäre wohl sowieso gehenkt worden.«
»Ja«, erwiderte Shay leise. »Haben Sie den Tod des Richters angeordnet, Sir?«
Der Rancher streichelte das Gesicht seines toten Jungen, dessen Genick offensichtlich gebrochen war. »Nein«, antwortete er, und Shay glaubte ihm. In so einer Situation lügt man nicht mehr. »Ich vermute, daß meine Leute uns hier rausholen wollten, weil sie dachten, ich würde das von ihnen erwarten - und sie dafür natürlich gut bezahlen.«
Tristan kam mit einigen Männern in das Gebäude. »Wir müssen raus«, rief er. »Das Dach kann jeden Moment einstürzen.«
Nur zögernd ließ der Rancher den Körper seines Sohnes los, den die Männer ins Freie trugen. Gestützt auf Shay, folgte Kyle.
»Warum?« fragte der Marschall, als sie draußen waren.
Kyle machte gar nicht den Versuch, so zu tun, als würde er die Frage des Marshall s nicht verstehen. »Ich wusste vorher nichts von dem Überfall auf die Kutsche«, versicherte er. »Und anschließend wollte ich meinen Jungen natürlich beschützen.«
»Welche Rolle spielte Cornelia bei der Sache?« Er wusste es ja schon von Aislinn, aber er wollte von Kyle die Bestätigung hören.
Der alte Mann lachte trocken, und es klang verbittert. »Sie hat dem Jungen ein bisschen den Kopf verdreht. Das Übliche. Reife Frau - dummer Junge. Sie hat ihn dazu gebracht, die Kutsche in die Luft zu jagen, denn sie hoffte, daß Sie die Stadt für immer verlassen würden, wenn Grace tot wäre. Sie glauben doch nicht ernsthaft, daß Billy von sich aus auf den Gedanken gekommen wäre, eine Kutsche zu überfallen und dabei fünf Menschen umzubringen! Dazu hatte er doch gar keinen Grund, denn ich habe ihm ja genügend Geld gegeben, damit er saufen, spielen und huren konnte.«
Shay nickte. Natürlich würde er einen Suchtrupp zusammenstellen, um die Powder-Creek-Bande, die das Gefängnis beinahe ganz in die Luft gesprengt hatte, zur Strecke zu bringen, aber der Fall war im Prinzip geklärt. Trotzdem spürte er keinen Triumph, sondern nur Wut, Trauer - und Mitleid. Er hatte Mitleid mit Billy, der einer älteren Frau mit seiner Männlichkeit hatte imponieren wollen, Mitleid mit Kyle Senior , der seinen Sohn hatte decken wollen; er hatte sogar Mitleid mit Cornelia, deren Selbstsucht, Eifersucht und Angst so vielen Menschen das Leben gekostet hatten.
Tristan legte eine Hand auf Shays Schulter und riß ihn aus seinen Gedanken. »Alles in Ordnung mit dir?« fragte er, während zwei Männer Kyle Senior abführten. Er würde in einem Nebenraum des Mietstalls eingesperrt werden, bis entschieden war, was mit ihm geschehen sollte.
Shay nickte seinem Bruder zu und sah Aislinn, die etwas abseits stand. Sie hatte die Hände vor der Brust verschränkt und machte ein ängstliches Gesicht. Langsam ging er auf sie zu.
»Bist du verletzt?« wollte sie wissen. Er schüttelte den Kopf. »Billy ist tot, und Kyle ist ein gebrochener Mann. Ich glaube nicht, daß er die Haftstrafe überleben wird, zu der man ihn beim Prozess verurteilen wird.«
Aislinn schob ihren Arm unter den seinen. »Und was geschieht nun?«
»Ich werde an alle Sheriffs und Marshall s der Umgebung telegrafieren, damit sie nach O'Sullivan und den anderen der Powder-Creek-Bande Ausschau halten, die mittlerweile in alle Winde verstreut sein dürften.«
Aislinn atmete tief durch. »Dann wirst du diesen Männern nicht selbst folgen?« fragte sie hoffnungsvoll.
»Das kann ich im Augenblick noch nicht definitiv sagen«, antwortete er.
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