Leises Gift
Fluss zu sein, doch wie hoch genau, vermochte er nicht zu sagen. Ein Gürteltier flüchtete ins hüfthohe Gras, als er sich näherte. Er beobachtete, wie sich das Mondlicht auf dem gepanzerten Rücken spiegelte, bis es verschwunden war. Er setzte sich wieder in Bewegung. Zehn Schritte weiter, und er stand vor einer steilen Klippe.
Sechs Meter unter ihm wirbelte das dunkle Wasser des Mississippi. Er zog sein blutgetränktes T-Shirt aus und schleuderte es in den Fluss. Die Frau hatte ihn am Hals getroffen, hart getroffen, doch es war eine stumpfe Waffe gewesen, wahrscheinlich ein Schlüssel. Hätte sie ein Messer benutzt, wäre er vermutlich schon tot. So war lediglich sein Bart blutgetränkt.
Er joggte zum Wagen zurück, öffnete die Hecktür und befestigte die Aluminiumrampe, die er zum Be-und Entladen des Motorrads benutzte. Vorsichtig wegen der Dunkelheit rollte er die Maschine aus dem Wagen und stellte sie auf ihren Ständer; dann holte er eine kleine Kühlbox und einen Seesack hinter dem Beifahrersitz hervor. Abgesehen von diesen drei Dingen war der Lieferwagen leer. Er war den ganzen Weg von Jackson bis hierher mit Latexhandschuhen an den Händen, einem Wiederverschlussbeutel um den Hals und einer Plastikduschhaube über dem Kopf gefahren.
Er betätigte den Kickstarter der Honda, um ganz sicherzugehen, dass er nicht festsitzen würde. Dann stieg er ein letztes Mal in den Wagen, legte einen kleinen Gang ein und fuhr langsam bis zum Rand der Klippe. Drei Meter vom Abgrund entfernt sprang er aus der offenen Tür und rollte sich wie ein Fallschirmspringer auf dem sandigen Boden ab. Er hörte ein Platschen wie von einem springenden Wal, der ins Wasser zurückfiel, und rannte zur Kante der Klippe, um hinunterzustarren auf das absurde Spektakel eines weißen Chevy-Lieferwagens, der wie eine kaiserliche Barke den Mississippi hinuntertrieb. Die Nase kollidierte mit einer Landspitze, und das Vehikel begann sich um die Längsachse zu drehen, während es tiefer und tiefer sank und dabei südwärts in Richtung Baton Rouge und New Orleans davontrieb.
Wären die Umstände nicht so verdammt ernst gewesen, Eldon Tarver hätte laut aufgelacht. Doch das Lachen musste warten. Tausend besorgniserregende Gedanken kämpften in seinem Verstand um die Oberhand. Er würde keinem dieser Gedanken erlauben, sich frei zu entfalten, ehe er nicht einen absolut sicheren Ort erreicht hatte. Ein Teil von ihm wollte in Natchez bleiben, um die Arbeit zu Ende zu bringen, die er begonnen hatte. Doch in diesem Fall war die Zeit auf seiner Seite. Es gab wichtigere Probleme, mit“denen er sich befassen musste. Andrew Rusk beispielsweise.
Rusk hatte ihn belogen. Eldon war nicht sicher, wie weit Rusks Täuschung ging, doch eine Lüge war es zweifellos. Eldon verdrängte die in ihm aufsteigenden Rachegedanken und konzentrierte sich stattdessen auf sein Überleben. Er hatte immer gewusst, dass ein Tag wie dieser kommen würde. Jetzt, da es so weit war, war Eldon bereit. Sein Zufluchtsort war weniger als siebzig Kilometer entfernt. Dort konnte er sich ausruhen, Kräfte sammeln und seine Antwort planen. Er schnallte die Box und den Seesack auf die Honda. Er brauchte nichts weiter als einen kühlen Kopf und ruhige Nerven, um sein Versteck zu erreichen. Als er auf das Motorrad stieg und den Gang einlegte, durchströmte ihn neue Zuversicht.
Er war schon so gut wie da.
26
Chris lenkte seinen Pick-up auf den Ärzteparkplatz des St. Catherine’s Hospital und stellte den Motor ab. Bevor er nach drinnen ging, sicherte er die Ballwurfmaschine und den Generator – beides führte er wegen Bens Baseballtraining auf der Ladefläche mit – durch ein Kabelschloss. Es hatte eine Zeit gegeben, wo derartige Vorsichtsmaßnahmen in Natchez nicht nötig gewesen waren, doch das war lange vorbei.
Er machte seine Visite so konzentriert, wie es ihm angesichts der Umstände möglich war, doch die Ereignisse der vergangenen Nacht wollten ihm nicht aus dem Kopf. Nachdem er sich von seinem letzten Patienten auf der Station verabschiedet hatte, ging er nach unten in die Intensivstation, wo er Michael Kaufman begegnete, Thoras Frauenarzt. Vor zwei Tagen hatte er Kaufman eine Blutprobe Thoras zur Analyse geschickt, um herauszufinden, ob eventuelle Hormonstörungen die Ursache für ihre Unfruchtbarkeit waren.
»Ich bin froh, dass ich Sie hier treffe«, sagte Mike und blieb stehen. »Ich habe etwas Merkwürdiges in Thoras Blut gefunden.«
»Tatsächlich? Was?«
»Sie hat einen
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