Leises Gift
auf den nassen Asphalt. Der Wagen war bereits zu weit weg, als dass er den Fahrer noch hätte erkennen können, doch Chris zeigte ihm nichtsdestotrotz den erhobenen Mittelfinger. Normalerweise hätte er sich nicht dazu hinreißen lassen. Doch normalerweise hätte er sich auch nicht von einem Wagen auf einer so wenig befahrenen Straße wie dem Natchez Trace erschrecken lassen.
Während er am Straßenrand entlangfuhr und die Reifen leise surrten, erblickte er in der Ferne einen zweiten Radfahrer, der sich auf der anderen Seite der Fahrbahn näherte. Als er näher kam, erkannte Chris, dass es eine Fahrerin war. Er hob die Hand zum Gruß – und trat dann voll in die Bremsen.
Die Fahrerin war Alex Morse.
10
Agentin Morse trug keinen Fahrradhelm, und das dunkle Haar war zu einem durchnässten Pferdeschwanz zusammengebunden, was ihre Gesichtsnarben noch deutlicher hervortreten ließ. Es waren die Narben, an denen Chris sie erkannte. Er konnte kaum glauben, sie hier anzutreffen. Er wollte schon an ihr vorbeisprinten, als sie die Straße überquerte und einen Meter von ihm entfernt zum Stehen kam.
»Guten Morgen, Doktor«, begrüßte sie ihn.
»Was machen Sie hier?«, fragte er.
»Ich muss mit Ihnen reden. Die Gelegenheit erschien mir günstig.«
»Woher wussten Sie, dass ich hier bin?«
Morse lächelte nur.
Chris musterte sie von Kopf bis Fuß, betrachtete die durchnässte Kleidung, die an ihrem Leib klebte, und den triefend nassen Pferdeschwanz. Sie hatte eine Gänsehaut an Armen und Beinen, und das baumwollene T-Shirt von der TULANE LAW, das sie trug, würde Ewigkeiten zum Trocknen benötigen, selbst wenn der Regen aufhörte.
»Gehört Radfahren zu Ihren Hobbys?«, fragte er.
»Nein. Ich habe das Rad vor vier Tagen gekauft, als ich herausfand, dass Sie Radfahrer sind und Ihre Frau Läuferin.«
»Sie haben Thora ebenfalls verfolgt?«
Morses Lächeln verschwand. »Ich habe sie bei einigen Läufen beschattet, ja. Sie ist ziemlich schnell.«
»Meine Güte.« Chris schüttelte den Kopf und fuhr los.
»Warten Sie!«, rief Morse. »Ich bin keine Bedrohung für Sie, Dr. Shepard.«
Er hielt an und blickte zu ihr zurück. »Da bin ich mir nicht so sicher.«
»Warum nicht?«
Er dachte an die Worte von Darryl Foster. »Nennen Sie es Instinkt.«
»Sie haben gute Instinkte, was mögliche Gefahrenquellen angeht?«
»Zumindest war das bisher so«, antwortete er.
»Auch dann, wenn die Gefahrenquellen menschlicher Natur sind?«
Ein roter Pick-up jagte vorüber. Der Fahrer starrte auf die beiden.
»Warum fahren wir nicht weiter?«, schlug Alex vor. »Auf diese Weise fallen wir weniger auf, während wir uns unterhalten.«
»Ich habe nicht vor, die Unterhaltung von gestern fortzusetzen.«
Sie blickte ihn ungläubig an. »Aber Sie müssen doch Fragen an mich haben!«
Chris starrte zwischen die Bäume; dann drehte er sich zu ihr um und ließ etwas von seinem Zorn durchschimmern. »Die habe ich allerdings. Meine erste Frage lautet: Haben Sie mit eigenen Augen gesehen, wie meine Frau in das Büro dieses Anwalts gegangen ist?«
Alex wich einen kleinen Schritt zurück. »Nicht persönlich. Allerdings …«
»Wer hat es gesehen?«
»Ein anderer Agent.«
»Wie hat er Thora identifiziert?«
»Er ist ihr zum Wagen gefolgt und hat ihre Nummer notiert.«
»Ihre Nummer also. Kein Fehler möglich, wie? Keine Chance, dass er sich verschrieben hat und dass es jemand anderes gewesen sein könnte?«
Alex schüttelte den Kopf. »Er hat ein Foto von ihr geschossen.«
»Haben Sie das Foto?«
»Nicht bei mir. Aber sie trug ein sehr charakteristisches Outfit. Ein schwarzes Seidenkostüm mit einem weißen Schleier und einem Audrey-Hepburn-Hut. Nicht viele Frauen können heutzutage noch so etwas anziehen.«
Chris biss die Zähne zusammen. Thora hatte das fragliche Kostüm erst vor einem Monat auf einer Party getragen. »Haben Sie Aufzeichnungen von der Unterhaltung mit dem Anwalt? Kopien irgendwelcher Akten oder Memos? Irgendetwas, das beweist, worüber sie mit dem Anwalt gesprochen hat?«
Alex schüttelte zögernd den Kopf.
»Dann räumen Sie also die Möglichkeit ein, dass sie über Testamente, Immobilien, Investitionen oder sonst etwas Legitimes gesprochen haben könnten?«
Agentin Morse blickte zu Boden. Nach einer Weile sah sie Chris wieder an und antwortete leise: »Es wäre möglich, ja.«
»Aber das glauben Sie nicht.«
Sie biss sich auf die Unterlippe und schwieg.
»Agentin Morse, das Verhalten meiner Frau in
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