Leitstrahl für Aldebaran
angefangen, sie zu stören. Sie wußte, wie unangenehm Toliman solche Situationen waren, er ließ sie eigentlich nur sehr selten aufkommen und warf dann immer von sich aus etwas in die Debatte, und wenn er das jetzt nicht tat, dann hieß das, daß er selbst das Gefühl hatte, nicht weiter zu wissen, verdammt noch mal, sollte er doch, es würde ihm nicht schaden, ja, er brauchte jetzt ihre Hilfe, aber er würde diesmal ohne sie auskommen müssen, wichtiger war, daß sie. Sie zwang ihre Gedanken in die alte Bahn zurück. Also wie war das? Ihre Vorstellung von ihrer Zeit, als einer mit Arbeiten, Aufgaben, Prozessen erfüllten physikalischen Dimension, endete mit dem Leitstrahl. Um das Danach hatten sie sich noch nie Sorgen gemacht, das war dann Sache des Mutterschiffes. Aber das Danach war ja doch unfehlbar ein Ergebnis des Bisdahin und hing untrennbar damit zusammen. Die Kausalität. Nein, das führte auch nicht weiter, noch einfacher mußte man. Der Zeitablauf, ja, der Zeitablauf, auf den Zeitpunkt des Leitstrahls führten zwei gleichzeitige Prozesse, in denen sie doppelt lebten, dort vereinigten sie sich, und danach.
Das war es. Für das Danach gab es überhaupt keine Sicherheit, keine Garantien. Nichts berechtigte sie zu sagen: weil vorher das und das passiert ist, deshalb muß nachher dies und jenes passieren. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit liefen sie auf einen Zeitpunkt aus zwei Zeiten zu, aus einer Zeitgabel, aus zwei Prozessen, und es war ungewiß, ob der eine oder der andere sich fortsetzen würde - oder keiner von beiden! Bisher hatte sie aus theoretischen Spekulationen, aus der Betrachtung gewisser mathematischer Formelapparate heraus angenommen, die Anomalie sei eine Begleiterin des Überriesen. Es konnte aber auch anders sein. Alles war denkbar. Sie konnte eine momentane Störung sein oder das Ende der Welt. Oder das Ende dieses Systems. Oder eine Erscheinung, die aus der Zukunft kam und sich in die Vergangenheit bewegte. Oder. Die Oder waren alle fruchtlos. Fruchtbar konnte allein die Beobachtung sein. Und zwar um so fruchtbarer, je näher sie dem alles entscheidenden Zeitpunkt kamen. Sie brauchte Zeit und Rechnerkapazität. Uff! Das nun aber den anderen verständlich machen!
Toliman war anfangs das allgemeine Schweigen als Denkpause willkommen gewesen. Aber Unbehagen steckt an, auch wenn es nicht direkt aus Haltung und Mienenspiel der anderen ersichtlich ist. Er begann es zu spüren, war sich aber nicht sicher, ob er nicht nur seine eigenen Sorgen nach außen projizierte. Ihm war selbstverständlich nicht entgangen, daß sich in der letzten Zeit Ereignisse gehäuft hatten, die für eine Ausweitung ihrer Tätigkeit über das Tal hinaus sprachen; er war sich bewußt, daß die Argumente dafür immer mehr und nachdrücklicher wurden, und was er dagegenhalten konnte, wurde immer magerer. Und trotzdem war er nach wie vor davon überzeugt, daß die bisherige Linie beibehalten werden mußte. Die Praxis hatte bewiesen, daß sie richtig war. Argumente konnten trügen, konnten in die Irre führen, vor allem, wenn ihnen so viele Vermutungen, Abschätzungen, Extrapolationen zugrunde lagen, wie das hier der Fall war. Aber die Beschränkung auf das Tal hatte zu einem kleinen Überfluß an Energie und Lebensmitteln geführt, trotz aller Schwierigkeiten und Gefährdungen. Und Schwierigkeiten und Gefährdungen, Risiken und Problemsituationen würde es auch geben, wenn man das Tal verließ, und aller Wahrscheinlichkeit nach sogar größere als hier. Nein, die Ausweitung des Operationsgebietes war etwas, das nur augenblicklich möglich und wünschenswert erschien oder sogar einen Beigeschmack von Notwendigkeit erhalten hatte - auf die Dauer war Sicherheit entscheidend: bei einem Minimum an Risiko in zähen, alltäglichen Bemühungen den Überschuß vergrößern. Nur Überschuß war Sicherheit - nicht mehr Wissen über die Umgebung. Und außerdem - wo war die zu Ende? Nach dem nächsten Tal kam wieder ein Tal, nach dem nächsten Berg wieder ein Berg, und wenn man in Steppe, Sumpf und Wald Vordringen wollte - wie weit denn? Waren fünf Kilometer ausreichend? Oder mußten es zehn sein? Oder fünfzehn?
Toliman schüttelte den Kopf, sein Entschluß stand fest. Er hoffte nur, daß Mira ihn auch diesmal unterstützen würde. Sie war doch die Klügste, die wissenschaftlich Gebildetste, und sie hatte trotz aller abweichenden Tendenzen letzten Endes immer seine Linie unterstützt, also durfte er wohl auch diesmal
Weitere Kostenlose Bücher