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Lelord, Francois

Lelord, Francois

Titel: Lelord, Francois Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hector
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Überwindung jeglicher Versuchung.«
    Vielleicht
hatte Edouard also gar keine Lust mehr, mit seinen Freunden einen guten Tropfen
zu probieren? Aber das mochte Hector dann doch nicht so richtig glauben. Anders
als manche Buddhisten war er davon überzeugt, dass unsere Persönlichkeit nicht
bloß ein Hirngespinst ist, das man einfach so abstreifen kann.
    »Aber er
müsste erst mal erfahren, dass wir hier sind«, meinte Brice, und Hector fand,
damit habe er den Nagel wirklich auf den Kopf getroffen.
    Später am
Tag stießen sie wieder auf Pater Jean, der mit zwei Gemeindemitgliedern die
Baupläne für eine neue Kirche begutachtete.
    »Die
jetzige wird allmählich zu klein«, erklärte er. »Außerdem kommt man bei
Hochwasser schwer dort hin.«
    Die beiden
K'rarang-Männer betrachteten den Bauplan mit großem Ernst, dann tauschten sie
sich in ihrer Sprache mit Pater Jean aus. Man spürte, dass diese neue Kirche
für sie ein wichtiges Anliegen war. Hector dachte, dass es in seinem Land
einstmals so ähnlich gewesen sein musste, als man in den Dörfern begonnen
hatte, Gotteshäuser zu errichten. Draußen schickte sich die Sonne an, die
Landschaft bis zur Weißglut zu erhitzen; die angenehmste Zeit des Tages war
vorüber.
    »Wir haben
ein Problem und möchten Sie um Rat bitten«, sagte Valerie. »Es geht um unseren
Freund.«
    Pater Jean
hielt ein und hörte ihnen zu. Dann sagte er: »Ihr Freund weiß bestimmt schon,
dass Sie hier sind. Die Grenze ist sehr durchlässig ... Die Elefanten der
K'rarang passieren sie beispielsweise, um beim Holztransport zu helfen, es gibt
ein ständiges Hin und Her. Und Ihre Ankunft bei uns war ja kein gewöhnliches
Ereignis. Aber wenn Sie wollen, kann ich mit einigen Leuten reden und ihnen die
Botschaft mitgeben, dass Sie gern ein Zeichen von Ihrem Freund hätten ...«
    »Das wäre
großartig«, sagte Valerie.
    »Da bin
ich mir nicht sicher«, meinte Pater Jean. »Aber wenn Sie es so wünschen ...«
    Hector sagte
sich, dass sie jetzt endlich ein wenig Muße hatten.
    »Hochwürden«,
begann er, »ich denke in letzter Zeit ein wenig über das Thema Freundschaft
nach. Man hat mir gesagt, dass der heilige Thomas von Aquin etwas darüber geschrieben
hat. Können Sie sich vielleicht daran erinnern?«
    »Ah«,
sagte Pater Jean mit einem Lächeln, »das nenne ich doch einen guten
Gesprächsstoff.«
    »Hat der
heilige Thomas von Aquin beispielsweise ein anderes Verständnis von
Freundschaft als Aristoteles?«
    »Im Grunde
bezieht er sich immerzu auf den alten Griechen, für den es drei Formen von
Freundschaft gab - die Zweckfreundschaft, die Vergnügensfreundschaft und die
Freundschaft zwischen tugendhaften Menschen.«
    »Ja, ich
weiß. Aristoteles erkennt alle drei als Freundschaften an, aber die höchste
Form ist natürlich die dritte.«
    »Unglaublich«,
sagte Valerie zu Hector. »Ich hatte das alles total vergessen. Woher holst du
das nur?«
    »Ich habe
eine Frau«, meinte Hector. »Und eine, die in die Kirche geht«, fügte er an
Pater Jean gewandt hinzu.
    »Das muss sie
nicht daran hindern, eine Anhängerin von Aristoteles zu sein«, sagte Pater
Jean. »So wie für Aristoteles die tugendhafte Freundschaft die wichtigste der
drei Formen ist, bildet die Caritas für den
heiligen Thomas von Aquin die wichtigste der drei christlichen Tugenden.«
    »Und die
beiden anderen sind Glaube und Hoffnung«, sagte Valerie.
    »Von wegen
alles vergessen ...«, meinte Hector.
    »Die Caritas ist so
etwas wie die Mutter der beiden Übrigen«, sagte Pater Jean, »und sie lässt
sich nicht auf die eingeschränkte Bedeutung reduzieren, welche das Wort
heutzutage hat. Wir denken dabei doch zunächst einmal an Wohltätigkeit jemandem
gegenüber, dem es nicht so gut geht wie uns. Aber eigentlich bezeichnet das
Wort die Liebe zu Gott und, um der Liebe zu Gott willen, die Liebe zu unserem
Nächsten ...«
    Plötzlich
waren auf den hölzernen Treppenstufen eilige Schritte zu vernehmen. Maria-Lucia
trat ein, und sie sah beunruhigt aus. »Es geht ihr sehr schlecht...«, sagte
sie.
    Und so
musste das Gespräch über den heiligen Thomas von Aquin einmal mehr verschoben werden.
     
    Der
General saß auf einem kleinen, hölzernen Balkon, der zum Fluss hin aus dem Haus
ragte. Zwei geschminkte junge Frauen in Longyis hockten ihm zur Linken und zur
Rechten und reichten ihm, sobald er es wünschte, Tee oder eine der Speisen, die
auf einem Tablett vor ihm aufgebaut waren. Die Sonne ging gerade unter; sie
verwandelte das Wasser in

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