Lemberger Leiche
in die Morgensonne, die sich im Tal über eine ockerfarbene Dachlandschaft ergoss. Auf der anderen Seite des Tales lag der Lemberg. Seine Weinhänge hüllten sich in geheimnisvolles Zwielicht.
Jenseits der Schranke mutierte der Feuerbacher Weg zu einem Wegle, das sich in Richtung Ortskern in die Tiefe stürzte. Irma flitzte an uralten Weinbergmauern und dichtem Gebüsch vorbei. Rechts des Weges stieg das Gelände fast senkrecht an, links neigte es sich jäh zum Tal. Der schmale Pfad dazwischen wurde immer steiler. Irma verließ sich auf die guten Bremsen ihres Drahtesels und sauste in halsbrecherischem Tempo abwärts. Kurz bevor sie mit einem Jauchzer die Talsohle Feuerbachs erreichte, befand sie sich wieder zwischen Giebelhäusern. Das Wegle wurde zur Straße, die sich Irma mit Autos teilen musste. Beim Endspurt auf der Grazer Straße tauchte geradeaus das Stahlgerüst über dem Tiefbahnsteig der Haltestelle Wilhelm-Geiger-Platz auf. Schmoll hatte Irma belehrt, dass die roten Metallbalken symbolisch für die Industrie des Stadtteils standen und außerdem als künstlerisch wertvoll galten. Irma fand das Gerüst vor allem praktisch, weil man dadurch den Wilhelm-Geiger-Platz von jeder der Straßen, die darauf zuliefen, schon von weitem erkennen konnte.
Sie kurvte um den Platz herum und stoppte am Biberbrunnen vor dem Rathaus. Irma warf einen Blick hinauf zu dem mächtigen roten Ziegeldach. Auf der Uhr am Kupfertürmchen war es zehn Minuten vor neun. Um neun öffneten in Feuerbach die Banken. Und in Feuerbachs zentralem Viertel rund um das Rathaus lag die Bankfiliale, in der der Raub stattgefunden hatte.
Schräg gegenüber der Eingangstür entdeckte Irma einen schwarzen Fleck auf dem Bürgersteig. Er war nicht sonderlich groß, man hätte ihn mit einer Untertasse abdecken können. Größer dagegen und auch weitaus ekelhafter war der Fleck daneben. Auch schwarz, aber ausgefranst und mit grauen Fellhaaren gespickt. Der Kater, dachte Irma. Hier hatte Herrn Engelhards Kater, der Pfeife hieß, gelegen. Wahrscheinlich war er unter einen Autoreifen geraten, bis hierher geschleudert worden und buchstäblich an seinem Blut kleben geblieben. – Da konnte jetzt nur noch Regen helfen, den unappetitlichen Fleck von der Gehwegkante wegzuspülen. Irma sah zum Himmel: kornblumenblau, sauber und glatt, ohne ein einziges Wölkchen. Die Sonne war über die Dächer gestiegen, füllte die Straßen mit Licht und schob die Schatten gegen die Hauswände. Bis zum Mittag würde die Stadt wieder in 35 Grad Hitze braten. Obwohl sich nach der wochenlangen nassen Kälte, die dem November ähnlicher als dem Mai gewesen war, jeder nach Sonne gesehnt hatte, präsentierte sich diese nun schon tagelang mit sengender Siegesgewissheit, die die meisten Leute bereits verwünschten. Wer Glück hatte, fand Zuflucht in einem klimatisierten Büro.
Irma stand auf dem Gehweg neben der vielbefahrenen Straße, eingehüllt in Abgase. Sie spürte, wie sich die Hitze langsam, aber stetig aufbaute und sehnte sich nach einer norddeutschen Brise.
In der Hoffnung auf eine Klimaanlage betrat Irma die Bank und wurde nicht enttäuscht. Die Luft war kühl und verbreitete Putzmittelfrische. Es war eine kleine Filiale. An der Decke klebten Neonröhren. Das Linoleum sah neu aus. Der langgestreckte Raum war durch eine brusthohe Theke geteilt, an der sich die Schalter und weiter hinten entlang einer fensterlosen Wand die Arbeitsplätze befanden. Dort saßen zwei Damen und ein Herr bereits bei der Arbeit. Der vierte Platz war leer. Die drei Bankangestellten starrten auf die Mattscheiben ihrer PCs und klapperten geübt auf den Tastaturen.
Es schien, als ob hier noch rasch wichtige Dinge erledigt würden, bevor Kunden bedient werden mussten. Irma jedenfalls wurde nun für die erste Kundin gehalten, denn eine der Damen, die ältere, vollbusige, verließ ihren Platz, kam an die Theke und warf Irma ein dienstlich-freundliches »Grüß Gott, kann ich Ihnen behilflich sein?« entgegen. Ein Schildchen auf ihrem Busen bescheinigte, dass sie die Kassiererin Hannelore Schick war.
Mit einem »Guten Morgen« zog Irma ihre Dienstmarke aus der Tasche und hielt sie Frau Schick entgegen.
Diese schob die Brille höher auf die Nase, sagte: »Moment mal« und winkte den Herrn herbei.
Der knöpfte sein Jackett zu und schritt gemessen heran: »Grüß Gott. Kleiber mein Name. Ich bin der stellvertretende Filialleiter. Was kann ich für Sie tun?«
»Ist die Filialleiterin auch schon im
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