Lemberger Leiche
bei dem Raub als Mann agiert hat, verschafft sich mit dem Besuch des Weinblütenfestes ein Alibi als große Schwester. Möglicherweise wollten sie ihre Beute im Wald verstecken. Dann hat es Streit um die Knete gegeben und der Mord ist wahrscheinlich im Affekt geschehen.« Da Irma und Katz nur nickten und nichts sagten, fuhr Schmoll fort: »So kann es gewesen sein! Aber nun müssen wir uns ein bisschen ruckzuck mit der Frage nach dem Motiv für den Mord befassen. Nur ein plausibles Motiv kann den Täter – oder die Täterin – entlarven.«
Er seufzte. Es klang wie ein tiefes Luftholen nach einem Dauerlauf. Irma kannte Schmoll gut genug, um diesen Seufzer richtig zu deuten. Es war sein Startschuss, nun endlich an eine Arbeit gehen zu können, die Erfolg versprach. Mit diesem Durchatmen pflegte er wichtige Entscheidungen einzuleiten.
Wie Irma vermutete, wurde ihr Boss im Handumdrehen umtriebig und verteilte seine Befehle.
»Es gibt eine Menge zu tun!«, stellte er mit energischer Betonung fest. Dabei rutschte sein Bass eine halbe Oktave tiefer und wurde entsprechend lauter. »Möglicherweise brauchen wir mehr Leute und müssen das Ding mit einer Soko durchziehen.« Er grinste hinterhältig und sagte zu Irma: »Aber vielleicht reicht es schon, wenn das Eichhörnle sein Köfferle packt, um Frau Brünnhilde Kurtz auf Mallorca aufzuspüren!?«
Auf Irmas Antwort: »Das halte ich für das Beste, und zwar sofort«, erfolgte kein Kommentar, sondern Schmoll griff zum Telefon und sprach ziemlich lange mit dem Staatsanwalt.
»Obwohl es eilt«, sagte er dann zu Irma, »fliegst du erst, nachdem wir hier noch zwei wichtige Termine erledigt haben.Zuerst solltest du dir die Leiche des Spargeltarzans aus dem Kotzenloch noch mal ansehen. Wenn du ihn als Frau Kurtz’ angebliche kleine Schwester identifizieren kannst, dann bekommen wir von der Staatsanwaltschaft umgehend den Durchsuchungsbeschluss für die Kurtz-Wohnung. Nach einer Hausdurchsuchung werden wir wahrscheinlich ein paar Details mehr haben, die deine Reise notwendig machen und dir bei der Suche nach Frau Kurtz nützen könnten. Dem Amtshilfeersuchen für Mallorca wird dann auch nichts mehr im Wege stehen.«
Irma merkte wieder einmal, dass ihr Chef, sobald er ernstzunehmende Fäden in der Hand hielt, diese meisterhaft zu verknüpfen wusste und nichts dem Zufall überließ. Sie sah ein, dass die umgehende Hausdurchsuchung wichtiger war als eine überstürzte Abreise nach Mallorca.
Schmoll konnte sich nicht verkneifen zu bemerken: »Wenn ich nicht wüsste, dass du als Kommissarin ein absolut zuverlässiges Mädle bist, würde ich jemand anderen nach Palma schicken.«
»Keine Sorge«, sagte Irma munter, aber doch ein wenig verlegen. »Ich hoffe nur, du gestattest mir, Leo wenigstens Guten Tag zu sagen.«
»Wenn du dich daran hältst, dass das Vergnügen nach der Arbeit kommt, dann schon.«
»Okay.«
Irma wechselte das Thema, indem sie fragte, ob sich noch immer kein Anhaltspunkt über die Identität des jungen Mannes aus dem Kotzenloch ergeben hätte.
»Bisher nicht«, sagte Schmoll. »Die baden-württembergischen Melderegister und Datenbanken sind erfolglos durchgecheckt worden. Ich hab Anweisung gegeben, die Aktion aufs ganze Bundesgebiet auszudehnen. Da wir nur das Foto mit dem ausgeflickten Gesicht haben, wird es schwierig werden. Sobald die DNA feststeht, können wir prüfen, ob er bereits was auf dem Kerbholz hat und registriert ist.«
Obwohl es Irma grauste, die Kotzenloch-Leiche, die sie bei der Bergung gesehen und in beklemmender Erinnerung hatte, noch einmal zu besichtigen, fragte sie tapfer: »Und wann gehen wir in die Pathologie?«
»Nach dem Essen«, sagte Schmoll. »Erst brauche ich jetzt was zwischen die Zähne.«
Irma schluckte. »Na prima: erst Kantine, dann Pathologie! Wie kriegst du das nur immer hin, Schmoll?«
»Stell dich nicht so an!«, sagte er.
Schmoll beschloss, das Stäffele zu nehmen, das vom Präsidium über den Stuttgarter Weinwanderweg zum Robert-Bosch-Krankenhaus führte. Es war ein gut ausgebauter, steiler Treppenaufgang, bei dem sich Schmoll nie entscheiden konnte, ob er 264 oder 266 Stufen hatte, obwohl er sie bei jedem Aufstieg zählte. Diesen Treppenweg zwischen den Rebstöcken war Irma vor mehr als einem Jahr, als sie gerade erst nach Stuttgart gekommen war, das erste Mal hinaufgestiegen. Damals hatte Schmoll ihr von hier aus einen seiner Heimatkundevorträge gehalten und die zauberhafte Aussicht über Stuttgarts Täler und
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