Lemberger Leiche
weiterer Kripobeamter mit José saßen. Unterwegs brachte Irma Leo so schonend wie möglich die Ergebnisse des Verhörs bei. Leo schwitzte und keuchte. Er knirschte mit den Zähnen, als würde er Knochen zermalmen. Irma wusste, wie sehr er seine kleine Schwester liebte. Und für Irma, eine krisenerprobte Kommissarin, war es das erste Mal, dass ihr ein Opfer nahestand.
Sie kamen zu spät. Die Finca stand leer. Alles deutete auf einen überstürzten Aufbruch hin. Auf der verstaubten Eckbankstand ein Kosmetikkoffer aus edlem Leder mit Aufdruck
Hotel Castillo
. Der Koffer und die exquisiten Schönheitsmittel, die er barg, wirkten in dem armseligen Raum wie Relikte aus einer anderen Welt.
Frau Kurtz’ neue Designerklamotten waren im Raum verstreut, als seien sie in kopfloser Wut dort hingeschleudert worden. Vielleicht aus einer Reisetasche, dachte Irma, aus einer Tasche, die Frau Kurtz für den Transport anderer Dinge gebraucht hatte.
Von Line keine Spur! Auch das Geld fand man nicht, wenn Frau Kurtz denn wirklich die Bankräuberin gewesen war.
Doch es dauerte nicht lange, bis das Kellerverlies entdeckt wurde. Irma vermutete sofort, dass es Lines Gefängnis gewesen war. Das wurde zur Gewissheit, als Irma ein kleines Haarbüschel vom Boden aufhob. Streichholzlange grünrot-gelbe Haare. Irma liefen kalte Schauer über den Rücken. Wer hatte Line diese Haare ausgerissen? Hatte hier unten ein Kampf zwischen der kleinen, zarten Line und der hünenhaften, starken Frau Kurtz stattgefunden? Oder hatte Line sich die Haare selbst ausgerissen, um ein Zeichen zu hinterlassen? Ein Zeichen, dass sie hier gewesen war?
Irmas Aufregung wuchs sich zur Panik aus, als der Kripobeamte, der den Garten inspizierte, einen faustgroßen Wattebausch zwischen den Klatschmohnstauden fand. Nachdem Irma das Chloroform gerochen hatte, bekam sie Bauchschmerzen. Nicht von dem Geruch, sondern vor Sorgen um Line.
Leo hatte von diesem Fund nichts mitgekriegt. Er saß auf der Eingangsstufe, hielt das Plastiktütchen mit Lines Haaren in der Hand und starrte es an, als könne er die Zukunft daraus lesen.
Irma versuchte fieberhaft, sich vorzustellen, was Brünnhilde Kurtz in diesem Haus getrieben hatte. Der Letzte, der Frau Kurtz und Line gesehen hatte, war José. Aber das war in der letzten Nacht gewesen. José beteuerte immer wieder,er habe weiter nichts getan als Line abzuliefern. Brünnhilde hätte ihn angeschrien und weggeschickt.
In Irmas Kopf kreisten gebetsmühlenartig immer wieder die gleichen Fragen: Was hatte Frau Kurtz mit Line gemacht, nachdem José weggefahren war? Warum hatte Frau Kurtz sich entschlossen, die Finca zu verlassen? Hatte sie geahnt, dass José sie verraten würde? Wohin war sie geflohen? All das konnte Irma nicht mit Chefinspektor Fernández besprechen, weil es wegen sprachlicher Probleme zu kompliziert gewesen wäre.
Schließlich sagte sie zu ihm: »Ohne Auto kann Frau Kurtz mit Aline Kowalzki nicht weit gekommen sein. Bitte sorgen Sie dafür, dass wir einen Suchhund bekommen.«
Erst nachdem Leo das dem Chefinspektor übersetzt hatte, verstand er es. Fernández schüttelte bedauernd den Kopf und hielt eine längere Predigt, von der Irma so gut wie nichts verstand, weil der Chefinspektor aufgeregt und schnell sprach und dabei Deutsch und Spanisch mit englischen Brocken mischte.
Wieder musste Leo übersetzen: »Die Polizei auf der Insel hat keine Suchhunde. Sie müssen Hundeführer mit ihren Tieren vom Festland kommen lassen – das kann dauern. Aber Fernández verspricht Verstärkung anzufordern. Er will Leute herschicken, die die Spuren sichern und das Hinterland durchkämmen sollen. Aber …« Leos Stimme klang verzweifelt und hilflos, als er Irma den letzten Teil von Fernández’ Rede übersetzte: »Der spanische Chefinspektor sagt: Da morgen Sonntag ist und er ohnehin viel zu wenig Personal hat, müssen weitere Aktionen auf Montag vertagt werden. Schließlich wäre ja auf spanischem Territorium bisher kein Mord geschehen.«
Irma keuchte: »Das kann doch nicht wahr sein?!«
Leo blickte ratlos von einem zum anderen und sagte resigniert: »Es hörte sich aber an, als ob er’s ernst meint. Und Line wartet und wartet, und niemand kommt, um sie zu befreien!«
Inzwischen ging es auf acht Uhr abends. José, der die ganze Zeit im Dienstwagen hatte warten müssen, war eingeschlafen.
Der Mann hat Nerven wie Stahlseile, dachte Irma.
Aber dann, als der kleine Spanier hochschreckte und sie mit rotgeweinten Augen ansah, wurde
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