Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lenas Tagebuch

Lenas Tagebuch

Titel: Lenas Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Muchina
Vom Netzwerk:
Nachbarin, eine Postkarte, die sie zusammen mit noch einigen Briefen aus der Schakt mitbrachte, wo sie recht lange herumgelegen haben muss. Keine Ahnung, wie diese Postkarte zur Schakt gelangt ist. Die Karte vom 19.1. war von Schenja. Schenja schreibt, sie mache sich große Sorgen, warum sie keine Antwort bekommt, wo sie doch schon den x-ten Brief schreibt. Die Adresse: Gorki, Mogiljowgasse, und ich Idiotin habe an eine ganz andere, an ihre alte Adresse geschrieben. Deshalb ist mein Telegramm nicht angekommen.
    Jetzt habe ich folgenden Plan: Ich schicke Schenja ein neues Telegramm, und dann versuche ich, nach Gorki zu gelangen. Deshalb werde ich zu Kira und zu Galja ziehen. Wenn ich hierbleibe, wird es für mich sehr schwer werden. Ich kann kaum arbeiten, ich bin sehr geschwächt, wenn ich ein arbeitsloses Fa­mi­lien­mitglied bleibe, werden sie mich mit dem Arbeitsdienst quälen. Wenn der Frühling anfängt, wenn es wärmer wird, wird der ganze Dreck auftauen. Dann wird viel zu tun sein, und vielleicht schicken sie mich sogar zur Arbeit auf den Friedhof, Tote vergraben, bis ich selbst tot bin. Nein, ich muss zu Schenja. Schenja schreibt, dass sie es ganz erträglich haben, für die derzeitigen Verhältnisse sogar gut. Mich könnten sie ein bisschen auf­päppeln, ich könnte zu Kräften kommen und dann Arbeit finden, arbeiten und bei Schenja oder Njura 88 wohnen. Sie stehen mir doch nahe, wir sind Verwandte, sie lieben mich und werden mich sicherlich nicht fortjagen.
    Nein, nein, ich muss hier weg! Ich werde ein solches Telegramm schreiben:
    Ich bin allein. Aka und Mama sind gestorben. Kann ich zu Dir? Antworte schnell.
    Nur ich bin noch am Leben. Aka und Mama sind gestor­ben. Ich bin sehr geschwächt.
    Aka und Mama sind vor Erschöpfung gestorben. Ich habe es sehr schwer. Ich bin schwach. Schenja! Kann ich zu Dir?

    Aka und Mama sind gestorben. Schenjuscha, kann ich zu Dir? 89
    Es zerreißt mir das Herz, wenn ich an Mama denke. Ich habe noch immer das Gefühl, als ob Mama nur für kurze Zeit weggefahren sei und bald zurückkommen wird. Ich möchte so sehr etwas essen. Wird die Brot­ration etwa nicht erhöht werden? Ich bin es so leid, dieses halb verhungerte Dasein zu fristen. Und arbeiten zu müssen würde ich jetzt nicht aushalten, ich bin zu schwach. Zu Schenja, nur zu Schenja, dann bin ich ­gerettet.
    Mamotschka, Mamusja, du hast nicht durchgehalten, du bist gestorben. Mamulja, Mamontschik, meine allerliebste Freundin. O Gott, wie grausam das Schicksal ist, so sehr wolltest du leben. Du bist tapfer gestorben. Du hattest viel Mut, aber leider einen sehr schwachen Körper. Mamulja, du bist gestorben, du wurdest von Tag zu Tag schwächer, aber keine Träne, keine Klagen, kein Stöhnen, du hast versucht, mich aufzumuntern, hast sogar Scherze gemacht. Ich erinnere mich, dass du am 5. Februar noch aufgestanden bist. Während ich in Warteschlangen anstand, hast du Holz fürs Feuer vorbereitet. Nach dem Essen hast du ruhig gesagt, du wollest dich jetzt zum Ausruhen hinlegen. Du hast dich hingelegt, batest mich, dich mit deinem Mantel zuzudecken, und … du bist nicht wieder aufge­standen.

    Am 7. hast du es nicht mehr auf den Nachttopf geschafft, aber das Wichtigste, was so traurig ist: In diesen letzten Tagen, am 5., 6. und 7. Februar, hat Mama mit mir gar nicht mehr geredet. Sie lag da, bis zum Kinn zugedeckt, sehr streng und fordernd. Als ich mich weinend an ihre Brust warf, stieß sie mich zurück: »Du Dummerchen, was heulst du? Glaubst du etwa, ich sterbe?« – »Nein, Mamotschka, nein, wir beide werden noch an die Wolga fahren.« – »An die Wolga werden wir fahren, und Blinis werden wir ­backen. Jetzt gehen wir beide aber besser auf den Topf. Nimm schon die Decke weg. So, jetzt das linke Bein, jetzt das rechte, prima.« Und ich stellte ihre Füße auf den Boden, allein sie zu berühren war furchtbar. Da begriff ich, dass Mama nicht mehr lange zu leben hatte. Ihre Beine waren wie von einer Puppe, nichts als Knochen, und anstelle der Muskeln irgendwelche Lappen.
    »Hoppla«, sagte sie fröhlich und strengte sich an, um allein aufzustehen. »Hoppla, jetzt hilf mir auf.«
    Ja, Mama, du warst ein Mensch mit frohem Mut. Du hast natürlich gewusst, dass du sterben wirst, aber du hieltest es nicht für nötig, darüber zu reden.
    Ich erinnere mich jetzt, es war am 7. abends. Ich bat Mama: »Küss mich, Mamulja. Wir haben uns so lange nicht mehr geküsst.« Ihr strenges Gesicht wurde weicher, wir schmiegten uns

Weitere Kostenlose Bücher