Lennox 01 - Lennox
würde, wenn mein antiker Fahrer mit seinem antiken Taxi mich wieder auflas. Ich spazierte am Fluss entlang und dachte über Wilma Marshall nach. Es war gut möglich, dass sie mich mit irgendwelchen Hintergedanken auf heute vertröstet hatte. Vielleicht hatte sie sich mit jemandem in Verbindung gesetzt. Wer immer dieser Jemand war: Er kannte eine Menge von den Antworten, nach denen ich suchte.
Ich nickte und grüßte, als ich an einem gut gekleideten älteren Mann vorbeiging, der ein Sportjackett in Hahnentrittmuster mit dazu passender Mütze und eine Regimentskrawatte trug. Er schritt stumm an mir vorbei, als hätte er mich weder gesehen noch gehört.
Ich hätte mein Geld darauf gesetzt, dass Wilma von der Polizei ins Sanatorium gebracht worden war, aber die Polizei bezahlte Zeugen nicht dafür, dass sie außer Sicht blieben. Wer immer dahintersteckte, er hatte viele Beziehungen, vielleicht auch zu einem gefälligen Arzt. Während ich weiterging, dachte ich darüber nach, was Wilma über den groben Streich gesagt hatte, den die McGahern-Zwillinge ihr gespielt hatten – dass sie abwechselnd mit ihr geschlafen hatten und Frankie dabei immer vorgegeben hatte, er wäre Tam. Mir kam es wie eine sinnlose, wenn auch außerordentlich niederträchtige Täuschung vor.
In Perth gab es nur ein Café, die einzige Konzession an moderne Zeiten. Ich bestellte mir dort einen Kaffee, ehe ich zum Hotel zurückging, um meine Sachen zu holen und ins Taxi zu steigen. Als ich hineinkam, stand die Hotelbesitzerin am Empfang. Ihr formloses schwarzes Kleid, die flachen Schuhe, die Schlüsselkette um ihre Taille und ihr humorloses, gelangweiltes Gebaren ließen sie mehr wie die Direktorin eines Frauengefängnisses erscheinen als wie eine Gastwirtin.
»Ihr Freund Mr. Powell hat etwas in seinem Zimmer vergessen, Mr. Lennox. Einen Füllfederhalter. Ich habe seine Adresse. Er hat sich mit seiner Geschäftsanschrift eingetragen, sodass ich den Füller dorthin schicken kann, aber ich dachte, Sie sehen Mr. Powell vielleicht bald wieder.«
»Ich fürchte, da irren Sie sich. Ich kenne Mr. Powell gar nicht. Ich bin ihm gestern beim Abendessen zum ersten Mal begegnet.«
Sie bedachte mich mit ihrem Gefängnisdirektorinnenblick. »Aber Mr. Powell sagte, er kenne Sie. Er hat ausdrücklich darum gebeten, an Ihrem Tisch zu sitzen.«
Ich runzelte die Stirn. »Vielleicht hat er mich verwechselt.«
In diesem Moment kam der Fahrer an den Empfang und nahm meine Tasche, und wir gingen hinaus zum Taxi.
»Onkel Josef ist tot«, lautete der Eröffnungszug des Taxifahrers.
»Onkel Josef? Wer zum Henker ist Onkel Josef?«
»Stalin. Er hat sich die schwarzen Essensmarken abgeholt. Kam heute Morgen durchs Radio.« So fröhlich hatte ich meinen kleinen Fahrer noch nie gesehen, aber das war auch schon unsere gesamte Konversation während der halbstündigen Fahrt zum Sanatorium.
»Warten Sie hier wieder«, wies ich ihn an, als ich vor dem großen viktorianischen Gebäude ausstieg. Ich hatte das Gefühl, dass es nicht lange dauern würde. Am Empfang saß eine hübschere, freundlichere Schwester als am Vortag, doch als ich nach Wilma fragte, runzelte sie die Stirn.
»Sie ist nicht mehr hier«, erklärte sie. »Sie hat sich heute Morgen in aller Frühe selbst entlassen. Ich bin überrascht, dass Sie das nicht wissen. Sie sind Ihr Vetter, sagen Sie?« Misstrauen mischte sich in ihr Stirnrunzeln. »Miss Marshall wurde von ihrem Bruder abgeholt.«
»Ihr Bruder? Sind Sie sicher?«
»Ich war selbst hier am Empfang.« Ich merkte ihr an, dass sie darüber nachdachte, jemanden zu rufen. Sie nahm mir erkennbar nicht ab, dass ich Wilmas Vetter war.
»Da haben wir uns irgendwie missverstanden«, sagte ich und runzelte die Stirn, als ärgerte ich mich. Ich überlegte einen Augenblick. »Sind Sie absolut sicher, dass es ihr Bruder war? Er ist ein großer, gut aussehender Mann ... sieht ein bisschen aus wie Fred MacMurray, nur jünger ... Sie wissen schon, der Hollywood-Schauspieler?«
Ihr Misstrauen verflog. »Ja, genau, das war er.«
8
Es war spät, als ich in Glasgow eintraf. Der Perther Frühling hatte sich verflüchtigt, und Glasgow lag wieder einmal in Smog getaucht da. Zwischen November und Februar hatte der Smog seine Hochzeit, doch er lauerte das ganze Jahr auf passende Gelegenheiten, und tagsüber war die Temperatur dramatisch gefallen.
Als ich im Zug gesessen und durch das Fenster beobachtet hatte, wie das Wetter seine Stimmung änderte, hatte ich über
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