Lennox 01 - Lennox
Jäger. Hauptsächlich gehe ich auf Hirsche. Großartige Tiere. Wussten Sie, was die wichtigste Eigenschaft eines Jägers ist? Respekt vor seiner Beute. Wenn ich einen Hirsch schieße, bringe ich ihn schnell zur Strecke. Wichtig ist, höchstens zwei Schüsse zu brauchen. Damit beendet man das Leben so rasch und schmerzlos wie möglich. Wie gesagt, aus Respekt vor dem Tier.«
Ich lächelte müde, als wir die Schwärze des Tunnels passierten und in Haymarket einfuhren. Der Zug hielt, doch niemand stieg ein. Die Lokomotive stieß eine große Qualmwolke aus, die über die Bahnsteige wehte. Ich fühlte mich isoliert, saß mit dem größten Langweiler der Welt in einer kleinen Kapsel fest.
»Ich finde es bemerkenswert«, fuhr er fort und schaute aus dem Fenster, um sich eine graue Diashow des Lothian anzusehen, »dass wir uns oft als jemand anders erweisen als der, von dem wir dachten, dass wir es sind. Nehmen Sie mich – ich weiß, wofür Sie mich halten: einen kleinen Mann ohne Fantasie, einen namenlosen Bürokraten.«
»Ich ...«, begann ich. Es war mir unangenehm, wohin sich das Gespräch entwickelte.
Der merkwürdige kleine Mann schnitt mir das Wort ab. »Es stimmt. Das ist genau, wer – oder was – ich war. Oder wer zu sein mir vorherbestimmt war. Ich bin kein fantasievoller Mensch. Doch mein Mangel an Fantasie ist nicht meine einzige Lücke. Sie müssen wissen, Mr. Lennox, ich habe schon früh bemerkt, dass ich nicht so empfinde wie andere. Ich werde nicht so glücklich wie andere, oder so traurig, oder so ängstlich.«
Ich richtete mich im Sitz auf. »Woher kennen Sie meinen Namen?«
»Doch außer mir schien es niemand zu bemerken«, fuhr er fort, als hätte er meine Frage gar nicht gehört. »Mein Leben hätte einen vorhersehbaren Verlauf genommen, wäre mir nicht das Unvorhersehbare in die Quere gekommen. Womit ich natürlich den Krieg meine. Doch auch da wissen Sie genau, was ich meine, Mr. Lennox. Sehen Sie, während des Krieges habe ich entdeckt, dass mein emotionaler Mangel durch eine Fähigkeit ausgeglichen wurde, die anderen fehlt. Ich konnte eiskalt töten. Ohne nachzudenken, ohne jede Empfindung, ohne späteres Bedauern. Das ist mein Talent. So wie andere ein Talent für Musik oder Malerei besitzen. Meine Begabung ist die des Mörders. Eine Begabung, die bei bewaffneten Konflikten besonders zum Vorschein kommt. Deshalb wurde ich in die Long Range Desert Group versetzt. Ich bin sicher, Sie wissen, wie wir unsere Nadelstichtaktik in die Tat umgesetzt haben.«
»Wer sind Sie? Und woher kennen Sie meinen Namen?« Ich stand auf.
»Bitte, Mr. Lennox, setzen Sie sich wieder.« Seine Hand fuhr so rasch in seine Aktentasche, dass ich die Bewegung beinahe nicht gesehen hätte. Aus dem Messergriff schnappte eine sehr schlanke, sehr lange Klinge. »Bitte, nehmen Sie wieder Platz. Und seien Sie versichert, dass jeder körperliche Kontakt zwischen uns sehr unglückselige Folgen für Sie nach sich ziehen würde, so kräftig Sie auch sind. Ich besitze mit dieser Waffe sehr große Erfahrung.«
Ich setzte mich. Ich brauchte nicht noch einmal zu fragen, wer der Mann war. Ich wusste es auch so. Ich wusste allerdings nicht, wie ich mit diesem Wissen weiteratmen sollte. Wie der Mann gesagt hatte, war ich kräftig. Wenn es hart auf hart kam, würde ich mich bis zuletzt wehren.
Ich setzte mich vorerst und hörte zu.
»Wegen der Fertigkeiten, die ich bei der LRDG entwickelt habe, bin ich nun sehr erfolgreich in meinem Beruf tätig. Wussten Sie, dass ich eine Frau und einen Sohn habe, Mr. Lennox?«
»Nein, das wusste ich nicht. Ich weiß überhaupt nichts über Sie, Mr. Morrison. Außer dass Ihr Name vermutlich nicht Morrison ist.«
Er lächelte und legte das Messer auf die Zeitung neben sich, die er diskret darüberschlug, um es zu verbergen. »Ich verstehe. Sie glauben, ich werde Sie töten, weil Sie zu viel wissen ... weil Sie mein Gesicht gesehen haben.«
»So ungefähr.«
»Das verstehe ich gut. Deutsche Seeleute glauben an einen Kobold, den sie Klabautermann nennen. Er ist unsichtbar, aber er bringt dem Schiff Glück, mit dem er fährt. Doch wenn jemand das Gesicht des Klabautermanns sieht, weiß er, dass er sterben muss. Ich muss zugeben, dass ich mich immer so gesehen habe. Aber seien Sie versichert, dass es hier nicht der Fall ist. Wen ich töte – ob Mensch oder Tier –, stirbt schnell und oft ohne zu ahnen, dass der Tod kommt. Deshalb sehe ich nichts Falsches darin, was ich tue. Ständig sterben
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