Lennox 01 - Lennox
hat aber früher den Namen Sally Blane verwendet. Hat ein paar Schmuddelfilme gedreht.«
Helena betrachtete das Foto auf eine Art und Weise, die erkennen ließ, dass sie ein Puzzle vor sich sah, in dem ein Teil fehlte. Schließlich blickte sie zu mir auf, die Stirn gerunzelt. »Ich kannte Sally Blane. Nicht gut, aber sie hat hier ein paar Schichten gearbeitet. Ich habe gehört, sie sei nach Glasgow gegangen.«
»Ist das die Frau?«
»Könnte sein. Sie sieht aus wie Sally ... und dann doch wieder nicht. Ich weiß, es hört sich seltsam an, aber ihr Gesicht ist irgendwie anders. Das gleiche Gesicht, und doch anders. Aber ich habe sie nie sehr gut gekannt. Solange sie hier gearbeitet hat, ist sie mit den Kunden gut zurechtgekommen. Sie war in der oberen Etage, wenn du weißt, was ich meine. Höherer Wert, höheres Einkommen.«
»Aber sie war nicht lange hier?«
»Nein. Ich bekam das Gefühl, dass sie ihr eigenes privates Portfolio aufgebaut hat, ein eigenes kleines Geschäft.« Wieder runzelte Helena die Stirn; es sah wunderschön aus. »Warte mal, da fällt mir noch etwas ein. Manchmal wurde sie nach der Arbeit von einem Mann abgeholt. Kein Kunde, vielleicht ein Freund. Oder ein Zuhälter. Ein übel aussehender Bursche. Sprach wie ein Glasgower.«
»Wie hat er ausgesehen?«
»Ein drahtiger kleiner Kerl. Sah wie ein Schläger aus. Teure Kleidung und ein Angeberauto, aber beides passte nicht zu seinem Gesicht, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Ich weiß genau, was du meinst«, sagte ich und dachte an einen Anzug von der Savile Row auf dem falschen Bügel. »Gab es jemals Ärger? Mit ihrem Glasgower Freund, meine ich. Der, an den ich denke, hatte die Angewohnheit, sich in fremde Geschäfte zu drängen.«
»Nein, es gab keinen Ärger. Wir bekommen hier keinen Ärger. Hier gibt es keine Gewalt, und ich lasse mich von keinem Gangster herumschubsen. Ich habe keine Rausschmeißer nötig, weil sich meistens irgendein Angehöriger der örtlichen Polizei im Gebäude aufhält.«
»Dein Freund und Helfer.« Ich streckte die Hand nach dem Foto aus, doch Helena betrachtete es noch.
»Es ist merkwürdig. Sie sieht nicht so aus wie in meiner Erinnerung. Könnte es ihre Schwester sein? Ich habe gehört, dass sie eine Schwester hat. Ich bin ihr aber nie begegnet.«
»Schon möglich. Ich habe dauernd mit Leuten zu tun, die sich als die eigenen Geschwister ausgeben.« Ich nahm das Foto zurück. Das Mädchen darauf sah jedenfalls genauso aus wie Lillian/Sally in dem Schmuddelfilm. Aber es war schon das zweite Mal, dass jemand sich das Foto zweimal angesehen hatte.
»Sie hatte eine Freundin, die sich Margot Taylor nannte. Könnte sogar ihre Schwester gewesen sein. Sie arbeitete für Arthur Parks in Glasgow und verfolgte anscheinend die gleiche Masche. Du weißt schon, ein kleines Nebengeschäft. Parks war allerdings nicht so verständnisvoll wie du. Soviel ich gehört habe, wurde sie verprügelt und rausgeworfen.«
»Tut mir leid, bei dem Namen klingelt es bei mir nicht.« Helena nippte von ihrem Scotch und hielt das Glas in ihren langen, schlanken Fingern mit den karmesinroten Nägeln. Sie war einmal Pianistin gewesen. Manchmal, hieß es, setzte sie sich für ihre »Gäste« ans Klavier, die dann erstaunt waren, dass in einem Bordell Bach und Mozart auf Konzertsaalniveau gespielt wurde. Helena war eine Art Wunderkind gewesen, doch als die Nazis an die Macht gekommen waren, war ihre Karriere den Bach runtergegangen. Sie und ihre ältere Schwester hatten es knapp vor dem »Anschluss« noch zu einer Tante in England geschafft. Ihre Eltern hatten ihre Angelegenheiten regeln und dann folgen wollen, doch als die Grenze zwischen Deutschland und Österreich fiel, wurden für die Familie Gersons alle anderen Grenzen unüberwindbar. Erst nach dem Krieg hatte Helena erfahren, dass ihre Eltern doch noch aus Österreich herausgekommen waren. Allerdings in Richtung Osten. Nach Auschwitz.
Kaum brach der Krieg aus, als Helena, ihre Schwester und ihre Tante von den britischen Behörden festgenommen und als feindliche Ausländer auf der Isle of Man interniert wurden. Kurz nach Kriegsende hatten unsere Wege sich gekreuzt.
Wir tranken und rauchten und redeten über Menschen, die wir beide gekannt hatten, nur um die Stille auszufüllen. Mit jedem anderen Thema hätten wir uns zu weit vorgewagt.
»Ich arbeite nicht mehr mit Kunden. Ich leite dieses Haus. Das weißt du, Lennox, nicht wahr?«
»Ich hatte es mir gedacht.«
»Eines Tages
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