Lennox 01 - Lennox
Menschen unter schrecklichen Schmerzen an Krankheiten oder den Folgen eines Unfalls. Das Leid der Menschen im Krieg haben Sie mit eigenen Augen gesehen. Die Qualen, unter denen manche verreckt sind. Aber meine Opfer nicht. Wenig oder kein Schmerz. Keine Vorahnung und daher keine Furcht. Sie sehen also, Mr. Lennox, wenn ich die Absicht gehabt hätte, Sie zu töten, hätten Sie es nie erfahren. Sie wären jetzt tot. Und diese Art des Zusammentreffens habe ich gewählt, weil es Gelegenheit zu einem kleinen Schwatz bietet. Wenn ich vorgehabt hätte, Sie zu töten, hätte ich eine Stelle gewählt, wo ich eine bessere Möglichkeit gehabt hätte, mich nach der Tat abzusetzen.«
»Im Augenblick fühle ich mich von Ihnen zu Tode geredet. Was wollen Sie, Morrison?«
»Hier geht es um das, was Sie wollen.« Er lächelte, und die kleinen Augen hinter den Brillengläsern funkelten kalt. Ich musste daran denken, dass diese kleinen, hässlichen Bankkassiereraugen das Letzte gewesen waren, was viele Menschen auf Erden gesehen hatten. Ich konnte mir ihren Tod genau so vorstellen, wie er es beschrieben hatte: ein Moment des Schocks. Oder des Unglaubens. Dann ein letzter Blick in diese Augen.
»Nun«, fuhr er fort, »ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen. Aber darüber können wir später sprechen. Ah – unsere Haltestelle. Oder zumindest meine Haltestelle. Ich fürchte, ich muss Ihnen zumuten, mich auf einem Teil des Weges zu begleiten. Und bitte, Mr. Lennox, seien Sie nicht dumm. Ich habe auch eine Schusswaffe.«
Wir stiegen aus dem Zug. Mr. Morrison blieb hinter mir, den Regenmantel über den Arm geschlungen, um das Messer zu verbergen. Der Bahnhof war klein: zwei Bahnsteige, ein Abstellgleis. Er lag am Rande eines Örtchens mitten in einer düsteren Mooreinöde. Mittlerweile wurde es dunkel, und Mr. Morrison wies mir die Richtung, in die wir den Bahnhof verlassen würden: weg von dem Städtchen und ins menschenleere Hochland.
Tausend verschiedene Bilder von tausend unterschiedlichen möglichen Ausgängen unseres Ausflugs wirbelten mir durch den Kopf. Gewiss, Mr. Morrison war als Meister seines Fachs bekannt, doch seinen eigenen Worten zufolge pflegte er seine ahnungslosen Opfer zu überraschen. Ich aber war mir des kleinen Scheißkerls, der hinter mir ging und die Messerklinge noch immer unter dem Regenmantel versteckte, nur allzu gewahr. Und er mochte alle mögliche Kampferfahrung besitzen, aber die hatte ich auch. Und im Unterschied zu mir war er kein kräftiger Mann.
Nach ungefähr fünfzehn Minuten Anstieg erreichten wir eine hässliche Kirche, die mit ihrem viel zu kleinen Turm wie eine riesige steinerne Scheune aussah. Ein schmiedeeiserner Zaun bildete ein enges Quadrat um einen Kirchhof mit dicht beieinander stehenden Grabsteinen, von denen einige schief und andere zerbrochen waren. Gestalt gewordener schottischer Protestantismus: abweisend, unheimlich, trostlos.
»Kirk o’ Shotts ...«, erklärte Mr. Morrison. Im Zwielicht war er zu Umrissen und Schatten reduziert. Ich blickte mich um. Niemand in Sicht. Für einen Mord ein ebenso guter Ort wie jeder andere. Ich verfluchte mich, dass ich ihn nicht schon früher angegriffen hatte. Jetzt wäre er auf mich vorbereitet.
»Nur ruhig.« Mr. Morrison schien meine Gedanken zu lesen. »Ich weiß, dass sich diese Abgeschiedenheit gut für einen Mord eignet, aber deshalb habe ich Sie nicht hierher gebracht. Sagen Sie, kann ich das wegstecken?« Er hob die schmale Klinge und ließ sie wieder im Griff einschnappen; dann steckte er das Klappmesser in die Tasche. »Bitte machen Sie mir keine Schwierigkeiten, Mr. Lennox. Ich habe Sie zu Ihrem eigenen Vorteil hierher gebracht, nicht zu meinem.« Er ging in eine Ecke des Kirchhofs und hob die Ecke einer Grabplatte hoch, die ins moosige Gras eingesunken war. »Ich fühlte mich besonders hierher gezogen«, sagte er, wobei er eine Tabaksdose aus einer verborgenen Höhlung unter der Platte nahm. »Dies war – und ist noch immer – die Great Road zwischen Edinburgh und Glasgow. Im fünfzehnten Jahrhundert war es gefährlich, sie zu bereisen, hauptsächlich wegen Bertram Shotts, einem Straßenräuber, der außerdem ein Riese gewesen sein soll. Über zwei Meter groß. Angeblich hatte er ein Versteck in der Nähe der Kirk. Diese Kirche soll nach ihm benannt worden sein.« Mr. Morrison nahm ein zusammengefaltetes Briefkuvert aus der Tabaksdose und steckte es sich ungeöffnet in die Jackentasche. »Natürlich wird er kein Riese gewesen
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