Lennox 01 - Lennox
verkaufe ich es und ...« Sie ließ den Gedanken in der Luft schweben und blickte auf die Wände. Ein schöner Vogel in einem eleganten Käfig. Wir schwiegen. Sie hatte sich zu weit vorgewagt. Ich nahm meinen Hut.
»Ich gehe jetzt lieber.«
»Ja. War schön, dich wiederzusehen.« Die Temperatur war gefallen, und Helena stand auf und verabschiedete mich mit einem Händedruck, als wäre ich ihr Bankier.
Ich fühlte mich wie Dreck, als ich auf die Straße trat, und beschloss, durch die Stadt zum Bahnhof zurückzugehen. Unterwegs ließ ich Szenen aus meiner Vergangenheit Revue passieren. Nach dem Wiedersehen mit Helena war ich von einer widerlichen Nachgiebigkeit gegen mich selbst erfüllt. Ich trank einen Kaffee in der Bahnhofsgaststätte und nahm den Zug um halb fünf. Ich wollte Edinburgh hinter mir lassen und in die dunkle Umarmung Glasgows zurückkehren.
Im Waggon war es still. Der nächste Zug wäre voller Büroangestellter gewesen, die nach Glasgow und zu den Haltestellen dazwischen pendelten. Ich war noch immer in dieser beschissenen melancholischen Stimmung und brauchte Abgeschiedenheit, um vor mich hinbrüten zu können. Eine der Annehmlichkeiten, die ich mir auf Kosten meiner Klienten gönnte, war die Fahrt in der ersten Klasse. Ich fand ein leeres Abteil und setzte mich hinein. Ich freute mich schon auf eine einsame einstündige Reise, als ein kleiner, fetter Geschäftsmann mit schütterem Haar in einer Wolke aus Pfeifenrauch durch die Tür kam und seinen Regenmantel, seine Zeitung, seinen Aktenkoffer und sich selbst auf den Sitzen mir gegenüber ablegte.
»Guten Tag«, sagte er.
Ich brummte eine Antwort, und er verschwand hinter einer raschelnden Mauer aus Zeitungsseiten. Anscheinend würde er mich wenigstens nicht mit einer belanglosen Unterhaltung belästigen. Nach ein paar Minuten war lautes Dampfzischen zu hören, und der Zug fuhr an.
Die Welt vor dem Fenster schob sich schiefergrau vorbei. Ich dachte über alles nach, was ich über den McGahern-Mord wusste. Leider dauerte das nicht sehr lange. Der Geschäftsmann mir gegenüber hatte seine Zeitung zusammengefaltet und auf den Sitz neben sich gelegt. Er las nun in einer Country Life , doch er wirkte nicht wie ein jagender und schießender Landmensch, sondern eher wie eine Vorstadtpflanze. Für meine müßige Neugier musste ich einen hohen Preis zahlen: Er bemerkte, dass ich ihn beäugte, und nahm es als Einladung, ein Gespräch zu beginnen.
»Es ist besser, vor dem Berufsverkehr wegzukommen«, sagte er. Er sprach mit einem schottischen Schnarren, das sich weder Glasgow noch Edinburgh, weder der Arbeiter- noch der Mittelschicht zuordnen ließ.
Ich nickte mit einem pflichtschuldigen Lächeln.
»Geschäftlich in Edinburgh gewesen?«, fragte er.
»Sozusagen.«
»Nein, sagen Sie es mir nicht. Bitte, tun Sie mir den Gefallen. Das ist mein kleines Partykunststück: Ich rate den Beruf und die Persönlichkeit anderer Menschen anhand ihres Erscheinungsbildes.«
»Ach wirklich?«, entgegnete ich. Mann, verpiss dich bloß, dachte ich.
»Ja. Nun ... Sie sind eine Herausforderung. Ihr Akzent ist schwer einzuordnen. Sie sind Kanadier, kein Amerikaner, das ist leicht zu hören, aber ... ich könnte falsch liegen, weil Ihr Akzent ein wenig verschliffen ist, aber ich würde sagen, Ostkanada. Die Maritimes.«
»New Brunswick«, sagte ich und war aufrichtig beeindruckt. Aber nicht so sehr, dass ich das Gespräch hätte fortsetzen wollen.
»Und was Ihren Beruf angeht ...« Der kleine Mann mit den kleinen Augen hinter der Bankangestelltenbrille ließ sich allein durch Gleichgültigkeit nicht entmutigen. »Normalerweise ist es den Leuten leicht anzusehen, womit sie ihr Geld verdienen. Aber in Ihrem Fall würde ich sagen, wir haben es mit etwas Ungewöhnlichem zu tun.« Er hielt inne und nahm seine Ausgabe von Country Life in die Hand. »Aber da gibt es eine Frage, die jedes Mal hilft. Ich gehe auf die Jagd. Ich schieße hauptsächlich. An der Jagd nehmen zwei verschiedene Typen Menschen teil. Oder besser, zwei unterschiedliche Persönlichkeitstypen: der Jäger an sich und der Pirscher, der den Jäger zur Beute führt. Natürlich pirscht der Jäger sich manchmal auch selbst an die Beute heran. Aber nehmen wir an, wir wären hinter einem Hirsch her, Sie und ich. Würden Sie sich eher als Pirscher oder als Jäger sehen?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich ohne nachzudenken. »Als Pirscher vielleicht.«
»Ja, so hätte ich Sie auch eingeschätzt. Ich bin
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