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Lennox 01 - Lennox

Titel: Lennox 01 - Lennox Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Russell
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anschließend unverzüglich auf die andere Seite des Planeten auswanderte. ’Pherson’s war es auch, wo ich immer meinen Vorrat an Verhütungsmitteln auffrischte, die hier in Schottland als »Gummijungs« bekannt waren. Die unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten in Schottland waren erstaunlich. Ich hatte mal einem Glasgower zu erklären versucht, dass »Blowjob« der amerikanische und kanadische Ausdruck für Fellatio sei.
    »Oh, aye«, hatte mein Gesprächspartner erwidert. »Das nennen wir bei uns ’n Gedeck oder ’n Hinkebein. Oder ’n Flatschen.«
    Gummijungs. Gedecke. Flatschen. Allmählich wurde ich mit dem kuriosen Charme der Alten Welt vertraut.
    Während des Krieges hatte ich selbst gesehen, wie es ist, wenn ein Mann ins Schlottern kommt: Vor der Schlacht beben die Finger, und die Knie schlagen gegeneinander, aber sobald die Kugeln zu fliegen beginnen, hat man zu viel Angst und ist zu aufgeregt, um noch zu zittern. Beim alten ’Pherson war es genauso: Man sah das Rasiermesser in seinen dünnen Fingern vibrieren, spürte, wie er einen mit der bebenden anderen Hand am Gesicht betastete, und dann glitt die Klinge wundersam glatt und gleichmäßig über die straffgezogene Haut.
    ’Pherson stutzte mir das Haar. Zwischen den Schnitten flatterte die Schere wie ein Vogel und zerschnippte die leere Luft. Mit einem Mal wurde ich gewahr, dass in dem Stuhl neben mir jemand Platz genommen hatte.
    »Wir müssen uns unterhalten, Lennox.«
    Im Spiegel vor mir musterte ich Jock Fergusons Profil. »Hört sich offiziell an.«
    »Ist es auch«, sagte er. »Aber ich kann warten, bis Ihre Haare geschnitten sind.«
    Twinkletoes sah von seinem Reader’s Digest auf und streckte die Hand nach dem Türgriff aus, als Ferguson und ich an seinem Wagen vorbeigingen, doch ich blickte ihn warnend an und schüttelte verstohlen den Kopf. Er ließ sich in den Sitz zurücksinken.
    Das Auto, das hinter der Ecke auf uns wartete, war nicht Jocks Morris, sondern ein schwarzer Streifenwagen mit uniformiertem Fahrer. Die Sache wurde tatsächlich offiziell. Ferguson sagte kein Wort; sein Gesicht blieb steinhart.
    »Worum geht’s, Jock?«, fragte ich.
    »Werden Sie schon sehen.«
    Dass Ferguson sich nicht für die Einladung zum Italiener revanchieren wollte, war mir mittlerweile klar, und wir durchquerten die Stadt Richtung Glasgow Green und Saltmarket. Als der Fahrer uns vor der Flügeltür des städtischen Leichenschauhauses absetzte, erkannte ich, dass er keinen vergnüglichen Tag mit mir im Sinn hatte.
    Wie es schien, wurden wir erwartet. Glasgow war eine Stadt der Mangelerscheinungen, insbesondere des Vitaminmangels, und der unpassend fröhliche Gehilfe, der uns in die Katakomben des Leichenschauhauses führte, hatte krumme Beine, typisch für ein Opfer der Rachitis. Dieser Anblick war in Glasgow nicht ungewöhnlich: Ein Viertel der Bevölkerung, die die Dreißigerjahre durchlebt hatte, sah aus, als ritte sie auf unsichtbaren Shetlandponys.
    Zwischen den Kriegen war das Glasgower Leichenhaus verlegt worden, und die weißgekachelten Wände ließen mich an ein städtisches Hallenbad denken. Wir stiegen eine grell beleuchtete, breite Treppe hinunter und gelangten in ein Kellergewölbe.
    In einem Leichenschauhaus riecht es nicht so, wie man es vielleicht erwartet: kein Gestank nach Tod, mehr ein Gemisch aus Karbolseife und einem entfernt schalen Geruch, als wäre die Seife in abgestandenem Wasser aufgelöst worden. Wir traten in einen langen Saal. Die Temperatur und Fergusons Stimmung lagen etliche Grade unterhalb des Wertes an der Oberfläche. Der fröhliche Gehilfe mit dem Schimpansengang führte uns zu einer der Stahltüren, die in einer Reihe in die gekachelte Wand eingelassen waren. Er zog die Schublade heraus und schlug das weiße Laken zurück, das den Leichnam bedeckte.
    »Sie wissen, wer das ist?« Ferguson erwartete nicht, dass ich schockiert war, noch ließ er mir Zeit dazu. Wir hatten nie darüber gesprochen, doch wir wussten beide vom anderen, dass er das Schlimmste gesehen hatte, was der Krieg hervorzubringen vermochte. Es war eine Art düsteren Freimaurertums.
    Ich sah mir an, was von dem Gesicht übrig war. Am eigenartigsten wirkte, dass das grauweiße Haar auf dem Schädel noch immer so übertrieben makellos gekämmt war, wie John Andrews es im Leben getragen hatte. Unter dem Haaransatz allerdings befand sich ein tiefer Eindruck wie eine Einbeulung im Schädel. Auf dem Rücken der zerschmetterten Nase waren zahlreiche

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