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Lennox 01 - Lennox

Titel: Lennox 01 - Lennox Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Russell
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unterdrückte ein Grinsen bei der Vorstellung von Diskretion mit über zwei Meter Körpergröße und hundertfünfzig Kilo Gewicht. »Ich hätte Sie heute brauchen können. Kennen Sie jemanden, der einen Austin 16 fährt?«
    Goliath zuckte die Achseln. Angesichts der Größe seiner Schultern war das eine beeindruckende Gebärde.
    »Ich hatte vorhin Ärger mit jemandem in einem Austin 16. Er ist mir den ganzen Tag gefolgt, und ich dachte, es ist einer von Ihnen.«
    »Nee.«
    »Wenn Sie auf meinen Rücken aufpassen, könnten Sie darauf achten? Ein dunkelblauer oder schwarzer Austin 16.«
    »Wird gemacht, Mr. Lennox.«
    »Ich fahre jetzt zu meiner Bleibe. Heute Nacht brauche ich niemanden.«
    »Okey-dokey«, sagte Goliath freundlich mit seinem Richterskala-Bariton. »Aber ich folg Ihnen bis zu Hause. Nur um sicherzugehen.«
    »Ich nehme an, Sie sind Semple«, sagte ich, während ich meinen Wagen aufschloss. »Mr. Sneddon hat mir von Ihnen erzählt. Wie heißen Sie eigentlich mit Vornamen?«
    »Jeder nennt mich Tiny«, sagte er ohne jeden Hauch von Ironie. »Tiny Semple.«

22
     
    Wenn man morgens aufwacht, gibt es immer einen Augenblick, in dem man sich zeitweilig außerhalb seines Lebens wähnt. Jedem passiert es: Man bekommt dieses Gefühl von Glück, Zufriedenheit, Sorge oder Verzweiflung, das sich nicht erklären lässt. Man liegt in seinem Bett und denkt: Es muss einen Grund geben, warum ich mich so fühle, aber dieser Grund fällt mir nicht ein.
    Als ich am nächsten Morgen aufwachte, empfand ich eher »neuer Tag, alter Scheiß« als »neuer Tag, neue Dollars«. Dann, wie die falschen Ziegel, die Oliver Hardy Stück für Stück auf den Kopf knallen, fiel mir nacheinander der ganze Mist ein, der mir am Tag zuvor passiert war. Eines nach dem anderen trat es mir ins Gedächtnis. Ich hustete mich durch die erste Player’s Navy Cut des Tages, ohne das Bett zu verlassen. Einen Augenblick lang blieb ich liegen und überlegte, ob ich den Rest des Tages hier bleiben oder wenigstens in Erfahrung bringen sollte, ob meine Fahrkarte nach Halifax in Nova Scotia noch gültig war.
    Obwohl ich es besser wusste, stand ich auf, wusch mich und zog ein teures Seersucker-Hemd an, eine Seidenkrawatte und meinen besten Anzug. Ich rasierte mich nicht, sondern beschloss, auf Rasur und Haarschnitt zu ’Pherson’s zu gehen. Es war einfach so ein Tag: Für vierundzwanzig Stunden Mist entschädigte nichts besser, als sich das Gesicht mit einem kochendheißen Handtuch verbrühen zu lassen.
    Vor meiner Bleibe hatte ein Sunbeam Talbot 90 geparkt. Als ich an dem Wagen vorbeiging, blickte Twinkletoes McBride von seinem Reader’s Digest auf und grinste freundlich: Tiny war offenbar abgelöst worden und ruhte sich wahrscheinlich irgendwo am oberen Ende einer Bohnenstange aus. Ich gewann den Eindruck, Twinkletoes sei dankbar für die Unterbrechung: Nach einer ganzen Seite Reader’s Digest am Stück hätte er wahrscheinlich Kopfschmerzen bekommen. Twinkletoes’ Lippen bewegten sich nicht nur, wenn er las, sondern auch, wenn er jemand anderem beim Lesen zusah. Ich sagte ihm, ich ginge zum Haareschneiden zu ’Pherson’s, und er könne mich dort in einer halben Stunde abholen.
    ’Pherson’s lag im West End, abseits der Byers Road, nicht allzu weit von meiner Wohnung. Ich weiß nicht, wie das »Mac« verloren gegangen war, aber niemand sprach je von »MacPherson’s«, sondern immer nur von »’Pherson’s«. Ich mochte es dort wirklich. Ein guter Friseur im Glasgow des 20. Jahrhunderts war das Gegenstück zum Esszimmer während der Regency, nachdem die Damen sich zurückgezogen hatten: eine Zuflucht für Männer. Ich hatte gelesen, die rot-weiße Stange vor den Läden sei das Symbol der alten Bader: Blut und Verbände. Das stimmte nicht. Es war ein großer gestreifter Schwanz, der anzeigte, wessen Reich dahinter begann.
    ’Pherson’s roch nach Makassarhaaröl, aromatisierten Salben, Rasierwasser und Testosteron. Letzteres war eigentümlich, weil der alte ’Pherson, ein zierlicher, vogelhafter Mann Mitte sechzig, dessen Haar unnatürlich schwarz war für sein Alter – sogar unnatürlich schwarz für seine Spezies –, so warm war wie eine Kuscheldecke.
    Alle vierzehn Tage kam ich hierher, ließ mir das Haar schneiden und gönnte mir innigsten Kontakt mit einem Rasiermesser, ohne dass es mich schnitt; knapper konnte es nur kommen, wenn man Hammer Murphy aus dem Fenster eines vorüberfahrenden Wagens einen irischen Sumpfficker nannte und

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